Leo Kofler: Theorie und Praxis [1951]
Die Theoriefeindlichkeit ist eine der Niedergangs-Erscheinungen unserer Zeit. Die Achtung vor dem Wissen und dem abstrakten Denken hat stets die Aufstiegsepochen der Menschheit gekennzeichnet. Denn der Fortschritt bedarf in seiner Kritik des Alten und für seine Begründung des Neuen jener empirischen Tiefsicht, die in der Fähigkeit besteht, Schein und Wesen der Erscheinungen zu unterscheiden, oder, was dasselbe ist, wissenschaftlich (theoretisch) zu denken. Wo diese Fähigkeit entartet oder zur „privaten“ Angelegenheit eines engen Kreises „Gelehrter“ geworden ist, wird der Oberflächenschein zur Sphäre der gedanklichen Bewegung. Die Täuschung betrügt hier die Wahrheit. Es gibt aber kein sichereres Zeichen für das Steckenbleiben im vulgären Vorstellungsvermögen der „Gebildeten“ als deren mokantes Naserümpfen über die Theorie und die offen proklamierte Absetzung der Theorie als Führerin in der gedanklichen und, wie wir noch sehen werden, auch praktischen Beherrschung der Welt.
Theorie ist geordnete Erfahrung. Aber die von ihr im Ziele der gedanklichen Arbeit beabsichtigte Ordnung ist eine völlig andere als etwa die eines Kochbuchs, das gleichfalls die Erfahrung eines bestimmten Geschehensabschnittes ordnet. Das Kochbuch ist kein theoretisches Werk. Es kommt vielmehr der Theorie darauf an, mittels richtiger Inbezugsetzung der im naiven Denken voneinander getrennten Erscheinungen zueinander wie auch zu der ihnen zugehörigen Totalität und mittels der abstrahierenden Verallgemeinerung des so gewonnenen Tatsachenmaterials die Wahrheit hinter dem Schein zu entdecken. Es ist klar, dass eine solche Form der Erkenntnis der unmittelbaren „praktischen“ Erfahrung weit überlegen ist und diese sich schon gefallen lassen muss, von jener belehrt zu werden.
Dabei ist andererseits gewiss nicht zu übersehen, dass für die praktische Betätigung selbst die Aneignung der Theorie keineswegs ausreicht, sondern hier eine besondere Begabungsrichtung maßgeblich bleibt. Aber der Praktiker, der die Theorie grundsätzlich verabscheut, bleibt völlig richtungslos und vermag nur da Erfolge zu erzielen, wo er einer ebenso völlig richtungslosen, d.h. an keiner Theorie orientierten Gegenseite gegenübersteht. Will man zum anderen ein geschichtliches Beispiel für die Unzulänglichkeit der rein theoretischen Begabung für die Bewältigung praktischer Probleme anführen, so genügt der Hinweis auf die Professoren des Frankfurter Parlaments von 1848, die völlig versagt haben.
Wo die Praxis von der Theorie nichts wissen will, sich zu ihr skeptisch oder gar feindlich verhält, spricht man mit Recht von „Praktizismus“. Seine unvermeidliche Begleiterscheinung und sein sicherstes Erkennungszeichen ist die Entartung der Praxis zu einer leeren und erfolglosen, weil nur von der Kenntnis der Oberfläche der Gesellschaft und des Menschen geleiteten Spielerei mit politischen, organisatorischen, propagandistischen u.a. „Aufgaben“. Umgekehrt wird allerdings auch die theoretische Arbeit zur ebenso leeren Gedankenspielerei, wo sie die Nabelschnur zur Praxis völlig abreißt und sich damit von der Wirklichkeit entfernt.
Es ist interessant zu sehen, wie der Praktizist geneigt ist, gerade das als gesichert und selbstverständlich hinzunehmen, das als unerschütterliches Fundament seines Denkens zu setzen, was in Wahrheit am wenigsten dem Wesen der Erscheinungen nahe kommt, vielmehr nur deren Oberfläche erfasst, nämlich die sogenannte „Tatsache“. Der naive Glaube an die Macht der „Tatsache“ ist dem Verhalten des Wilden vergleichbar, der die Belebtheit der ihn umgebenden Naturgegenstände als selbstverständlich voraussetzt und sie („Fetisch“) zur Grundlage seines alltäglichen Tuns macht. Man kann daher treffend von dem Denken unserer theoriefeindlichen Praktiker als von „Tatsachenfetischismus“ sprechen.
Stellen wir die Frage: Was ist eine Tatsache? Die Antwort, die wir zu geben haben, setzt eine längere Untersuchung voraus und kann daher in diesem Rahmen nur andeutungsweise gegeben werden (– mehr als anzuregen beabsichtigt dieser kurze Artikel ohnedies nicht).
Zunächst muss unterschieden werden zwischen datenmäßigen Tatsachen (z.B. Kant ist 1804 gestorben) und Tatsachen, die bereits mehr oder weniger einen lebendigen Zusammenhang der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens ausdrücken – (wir haben es in unserem Zusammenhang nur mit diesem zu tun). Die gewöhnliche, datenmäßige Tatsache vermittelt keinen Begriff, wenn wir sie nicht von Anfang an in eine Beziehung zu anderen Erscheinungen bringen (z.B. Kant war ein großer rationalistischer Philosoph). Diese Beziehung stellt aber eine jener „Tatsachen“ höherer Ordnung dar, die sich bei näherer Untersuchung als höchst unklare, ja scheinhafte Gebilde herausstellen. Sie sind nichts anderes als über das Wesen der Erscheinungen zunächst hinwegtäuschende gedankliche Gebilde. Der Grund für diese – nun, sagen wir – Tatsache liegt in dreifachem.
Erstens in der isolierenden Funktionsweise unseres Bewusstseins. Unser Bewusstsein tendiert gerade da, wo es sich praktisch und nicht theoretisch verhält – und das ist bei dem „Erlebnis“, d.h. beim ersten Aufnehmen der Tatsache, immer der Fall – zur gedanklichen Zerreißung der Wirklichkeit, zu deren Zerteilung in unabhängig voneinander vorgestellte Fakten. Da die Welt aber einen inneren Zusammenhang bildet, erfassen wir in den isolierten Tatsachen die einzelnen Seiten der Wirklichkeit nicht richtig, sondern entsprechend der Vernachlässigung der Totalität unrichtig. Zweitens: Da der Zusammenhang der Welt sich im Prozess, in der Bewegung am deutlichsten manifestiert, unser Bewusstsein aber wiederum aus seiner zerteilenden Funktionalität heraus vom Prozess abstrahiert, erfasst es auch von dieser Seite her die Momente dieses Prozesses, die uns als „Tatsachen“ erscheinen, verzerrt. Drittens kommt die ideologische Verzerrung und Verklärung hinzu, die sich vielfach der beiden obigen Verhaltensweisen des Bewusstseins auf dem Wege ihres Zustandekommens bedient. Die Tatsache wird hier je nach dem historischen, gesellschaftlichen, klassenmäßigen usw. Standort des ideologischen Bewusstseins und seines Trägers geformt und mit entsprechendem Vorstellungsinhalt erfüllt.
Was die alte theoretische Arbeit unbewusst erstrebt hat, das ist für die moderne Wissenschaft zur bewussten Aufgabe geworden: die Auflösung des starren und die Realität scheinhaft verzerrenden „Tatsachen“-Scheins. Erst durch sie wird das Streben nach Erzielung eines objektiven und richtigen Tatsachenmaterials möglich. Die moderne Erkenntnistheorie beweist, dass die „Tatsachen“ nicht einfach existieren und wie Schmetterlinge eingesammelt werden können, sondern dass sie erst vom Denken auf dem Wege theoretischer Anstrengung „erzeugt“ werden müssen.
Das Unterliegen unter den vulgären Tatsachenschein ist das gemeinsame Merkmal aller Praktizisten. Es kann niemand gezwungen werden, ein Freund der Theorie zu sein. Ist er es aber nicht, dann soll er nicht auf die Hochschule, sondern in die Werkstatt und bestenfalls zur schlechten Journalistik. Speziell der Sozialist, der seine Umwelt verstehen und überdies noch in einer sinnvollen Weise verändern möchte, wird nicht umhin können, sich gründliche theoretische Kenntnisse anzueignen. Die praktische Erfahrung lehrt, dass mangelnde theoretische Schulung zu einer erheblichen Schwächung der Schlagkraft und der Erfolgschancen der sozialistischen Bewegung geführt hat. Die heute weit verbreitete Aversion gegen die Theorie ist ein Unglück für den Sozialismus.
Wir haben bereits angedeutet, dass die Theorie nur dann ihren Zweck erfüllt, wenn sie sich in den Dienst der Praxis oder, was dasselbe ist, des Veränderns der Welt stellt. Theorie und Praxis bilden im Bereiche des realen historischen, sozialen und politischen Geschehens eine Einheit. Den sichtbaren vermittelnden Faktor zwischen beiden bildet die Organisation. Wie ohne die Theorie die Praxis blind wird und ohne die Praxis die Theorie leer ist, so werden beide ohne die Organisation wirkungslos. Das bedeutet, dass ungeachtet der unvermeidlichen und entsprechend der Verschiedenheit in der individuellen Begabung auch verständlichen Arbeitsteilung zwischen dem Praktiker und dem Theoretiker innerhalb der oben aufgezeigten Beziehung zwischen Theorie und Praxis, beide Teile organische Elemente der einheitlichen Organisation sind und hier ihre Aufgabe zu erfüllen haben. Die Organisation schafft den Boden dafür und erzieht sowohl den Praktiker wie den Theoretiker zu dem, was die Hauptaufgabe jeder fortschrittlichen Bewegung und der sozialistischen erst recht ist, zum Handeln!
Erstveröffentlichung unter dem Pseudonym K. Löwe in der Zeitschrift Ziel und Weg, Heft 2, 15. November 1951.
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