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» „Für mich bis heute noch eine unglaubliche Leistung“

„Für mich bis heute noch eine unglaubliche Leistung“

Leo Kofler, die Schweizer Emigration und das Sommercasino in Basel
von Paul Ostberg

Im folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus einem Interview, das Christoph Jünke mit Paul Ostberg im Dezember 1997 in Berlin führte. Ostberg lernte Leo Kofler in der Schweizer Emigration kennen und schätzen, verlor ihn nach dem Krieg jedoch aus den Augen.

[…] Meiner Erinnerung nach, das läßt sich aber nachlesen, hat die Schweiz schon ab 1937 die Einreise für in Deutschland oder in Österreich verfolgte Juden – in Österreich waren sie noch nicht so verfolgt – gesperrt. Ich bin z.B. im Januar 1937 aus Berlin eingereist und habe nur eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis für die Dauer meines damals begonnenen Studiums in der Schweiz erhalten – mit der Festlegung, wenn das Studium zu Ende ist, die Schweiz wieder zu verlassen. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Österreich haben natürlich sehr viele Juden aus Österreich versucht, in die Schweiz zu kommen. Da setzte eine massenhafte Emigration auch von Nicht-Politischen ein – jüdische Emigranten aus Deutschland waren auch schon vorher gekommen.
Und jetzt hat die Schweizer Regierung festgelegt, daß sie keinen Rappen, also keine hundert Franken für diese Emigranten bezahlt. Vielmehr mußte die jüdische Flüchtlingshilfe für sie aufkommen, wenn es nicht politisch festgelegte Flüchtlinge waren. Für die sozialdemokratischen Emigranten kam das schweizerische Arbeiterhilfswerk auf und für die kommunistischen Emigranten mußte die Rote Hilfe aufkommen. Aber die wurden großenteils, das wurde auch dokumentarisch belegt, erst einmal ins Zuchthaus gebracht. In der Baseler Gegend wurde m.E. im Sommer 1938 für die damals schon ziemlich zahlreichen jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland in Basel ein Lager aufgebaut von der jüdischen Gemeinde. Weil für sie das Billigste war, Flüchtlinge in Lagern zu halten. Dieses Basler Lager war in einem alten Restaurant am Rande der Stadt Basel, daß noch aus der Restaurant-Zeit Sommercasino hieß, das Baseler Sommercasino, das bei Leo Kofler eine Rolle spielt. Er muß also, meiner Erinnerung nach, ziemlich direkt nach seiner Flucht aus Wien dort hingekommen sein.
Das Sommercasino war eine riesige Glasveranda, in dem für 96 männliche Flüchtlinge Strohsäcke waren, später hatten wir dann Holzverschläge mit Strohsäcken drin. Ich bin in das Lager gekommen im November 1938. Ich hatte noch ein bißchen Geld zum Leben, zum Studium in Basel, dann ging das aus und ich mußte auch dort rein. Nach meiner Erinnerung ist Leo Kofler schon da gewesen. Sein Strohsack, später sein Holzverschlag mit Strohsack war ziemlich dicht an meinem.
Es gab noch einen Eßraum für 140, da kamen welche von außerhalb zum Essen. Wir durften nicht arbeiten, nicht öffentlich auftreten, nicht den Kanton verlassen. Auf politische Betätigung stand Ausweisung nach Deutschland und damit ein Kopf kürzer. Und es gab die längste Zeit in diesem Lager, morgens um 8 und abends um 18 Uhr, einen Polizeiappell, weil das Lager nicht umzäunt war. Man hätte also rauskommen können, aber das war verboten.

Polizeiappell heißt, es wurde kontrolliert?

Da war ein Polizist, und da wurde nach dem Ausweis gefragt. Es gab Zeiten, z.B. unmittelbar nach dem Naziüberfall auf Polen, wo wir das Lager nicht verlassen durften. Möglicherweise fürchtete die Schweizer Regierung entweder, daß eine deutsche Armee durch die Nordschweiz nach Frankreich reinmarschieren würde, um die Maginot-Linie, die französische › Befestigung am Rhein, zu umgehen. Oder sie fürchtete einen Gegenstoß der französischen Armee nach Süddeutschland. Daß er nie stattgefunden hat, das war der dròle de guerre. Wir haben von Basel aus die französische Maginot-Linie, Basel liegt ja im Dreiländereck, und die gegenüberliegende Siegfried-Linie der Deut-schen, die waren ja von Basel aus mit bloßem Auge zu sehen. Und jede Nacht um halb zwei schossen die ein paar mal rüber. Da durften wir das Lager eine Zeit lang überhaupt nicht verlassen.
Eigentlich hatte die Schweizer Regierung die Absicht, uns im Falle eines deutschen Einmarsches an die Nazis auszuführen. Sie waren ja nicht sehr judenfreundlich, das geht auch aus den Dokumenten hervor. […]
Später dann gab es Zeiten, wo wir stundenweise und dann auch später tagsüber in die Stadt durften. Der Leo hatte die unglaubliche Energie, nachts mit diesen 96 Menschen auf Stroh zu hausen in dem Lager und, sobald er es durfte, in die Baseler Universität zu gehen und wissenschaftlich zu arbeiten. Das ist mir bis heute unwahrscheinlich, daß ein Mensch unter diesen fürchterlichen Bedingungen aus Österreich geflohen ist – wir hatten ein Taschengeld von wöchentlich einem Franken, das waren damals 70 Pfennige. Wahrscheinlich hat er auch die große Strecke vom Lager bis zur Uni zu Fuß laufen müssen, eine halbe bis dreiviertel Stunde mindestens pro Weg. Die Ernährung war nicht so wie in den faschistischen KZ’s, aber wir haben Hunger gehabt. Unter diesen Umständen die Kraft zu finden, wissenschaftlich zu arbeiten, ist für mich bis heute noch eine unglaubliche Leistung.

War dies der Grund, warum er Ihnen überhaupt aufgefallen ist?

Ja, das Lager bestand aus mehr oder weniger jüdischen Kleinbürgern, die zum Teil politisch nicht sehr interessiert waren, natürlich auch, weil die meisten österreichischen, wie auch die Mehrheit der deutschen Juden sehr arm waren. Mir, 15 Jahre jünger als er, fiel der Leo in den Gesprächen als ein hoch gebildeter Mensch mit unglaublicher Konzentrationsfähigkeit auf. Ich war zwar damals schon politisch interessiert, er hatte jedoch schon zehn Jahre Praxis in der linken österreichischen Sozialdemokratie hinter sich.
Er hat mir auch mal ein Teil eines damaligen Manuskriptes zu lesen gegeben. Wenn ich mich richtig erinnere – das ist schon über 50 Jahre her – hat er damals noch gearbeitet an der Entwicklung des jungen Marx vom jungen Hegelianer zum späteren Marxisten. […]
Es gab auch eine Bewegung Freies Österreich in der Schweiz. Wir haben, als fortschrittliche deutsche Emigranten die Annektion Österreichs durch den Nationalsozialismus nie anerkannt. Deswegen hat sich auch eine Bewegung Freies Österreich in der Schweiz gegründet. Und ich bin ganz sicher, daß der Leo Kofler da mitgemacht hat.

Weil Sie seinen Charakter kannten , oder warum waren Sie so sicher?

Er war ein konsequenter Antifaschist und er bekannte sich zu den Lehren von Karl Marx. Er kam ja vom linken Flügel der österreichischen Sozialdemokratie, aus dem Austromarxismus und da er politisch aktiv war… Wir durften und wollten aus Gründen der Illegalität nur wenig voneinander wissen. Alles Wissen belastet.

Was war denn die praktische Arbeit eines solchen illegalen Kreises?

Wir Deutschen haben in beschränktem Ausmaß und in größter persönlicher Gefahr auch einige Verbindungen über den Rhein nach Süddeutschland gehabt. Damit haben wir z.B. den Frauen deutscher KZ-Häftlinge geholfen. Wir haben auch einiges politische Material, das auch selbst produziert wurde, hinübergeschummelt. Wir mußten von unserem einen Franken wöchentlich Rasierklingen, Briefmarken usw. kaufen und haben trotzdem von jedem Franken zehn Centimes bezahlt. Die Österreicher sicherlich auch. Mir fällt jetzt durch unser Gespräch ein, daß ich selbst in dem politischen Isolierungslager in Bassecourt, wo ich von Januar bis Juni 45 war, auch mal eine schlampigerweiser liegengelassene Liste von Verbindungsadressen der freiösterreichischen Bewegung hatte, die bis nach Österreich rein reichte. Auch das gabs. Soviel ich weiß, war der Leo Kofler auch persönlich befreundet mit dem viel jüngeren Kurt Seliger, den er mitbrachte. Seliger ist dann, ich weiß nicht genau in welchem Jahr, zurückgegangen nach Österreich und soll ein Mitbegründer der Kommunistischen Partei Österreichs gewesen sein.

Ich würde nochmals gern an den Anfang zurückgehen, als Sie ihn kennenlernten. Sie sagten, sie wären ganz beeindruckt von seiner Leistungsfähigkeit und seiner Energie. Was war er sonst für ein Typ, menschlich und vom Aussehen her?

Na ja, ich hab ja jetzt Bilder von ihm als alter Mann gesehen. Er hat sich gar nicht viel verändert. Ein junger, schlanker Mann von 30, 31 Jahren, nachher 35, 36. Hochintelligent, sehr beherrscht. Er schien mir sehr konsequent logisch zu sein. Und er hatte schon ein hervorragendes Allgemeinwissen, was sich ja nachher in seinen zwei Bänden zur Entwicklung des Kapitalismus zeigt, in denen er ja ein unglaubliches Pensum an Literatur verarbeitet haben muß.

War er aufbrausend oder herrisch?

Das konnten wir uns nicht leisten in der Illegalität. Er trat, sagen wir mal, sehr bestimmt auf. Aber aufbrausend nicht. Ich habe nie erlebt, daß er sich mal gezankt hat. Er war schon umgänglich.

Und der Alltag in diesem Lager, wie ging der vor sich? Morgens wurde erstmal polizeilich geprüft, ob jeder da ist und dann?

Erstmal die Zeit, wo wir gar nicht raus konnten: Für 96 Mann gab es 4 kleine Waschklos. Morgens um 7 Uhr wecken, dann Betten machen. Dann so ein Ersatzkaffee und ein Stückchen Brot. Und dann hatte man nichts zu tun. Das war schlimm! An dem Nichtstun sind manche irrsinnig geworden. Ein Teil durfte dann deswegen und gegen winzige Bezahlung etwas Gartenarbeit im Krankenhaus von Basel machen. Das war eine Erholung, auch wenn es eine Schinderei war, 10 Stunden, pro Stunde 15 centimes. Man hatte wenigstens was zu tun. Einige waren in der Lagerküche beschäftigt und einige in der Lagerwäscherei. Aber sonst hatten wir nichts zu tun. Arbeiten war verboten. Der Leo ging dann also studieren, als wir wieder durften. Zuerst stundenweise, dann später konnte er vom morgendlichen Appell bis abends raus und ging in die Universitätsbibliothek und hat dort gearbeitet. […]

Und worüber wurde in den privaten Gesprächen geredet?

Natürlich haben wir zuerst einmal versucht, die politische und militärische Entwicklung zu verfolgen, am Tagesgeschehen teilzunehmen. Bis zu Stalingrad war überhaupt nicht sicher, daß der Faschismus nicht siegen würde, was für uns alle den Tod bedeutet hätte. Natürlich spricht man darüber, beschäftigt sich damit.

Und theoretische Gundsatzfragen?

Nein! Gar nicht. […]

Wieso haben Sie sich dann nach dem Weltkrieg nicht mehr gesehen?

Von vornherein war in Ostdeutschland, solange es noch sowjetische Besatzungszone war und auch noch in den ersten Jahren der DDR, ein gewisses, sagen wir mal, Mißtrauen gegenüber jenen Menschen, die zurück aus der Emigration kamen, weil man vermutete, daß der eine oder andere auch vom amerikanischen Geheimdienst eingespannt war und hier als Spion eingeschleust wurde.
Ich möchte heute sagen, da war was dran, weil ab 1943 in Genf ein Mann seinen Sitz hatte, der später der Leiter der CIA gewesen ist, Dulles, der saß in Genf. Der hat natürlich versucht, in diesen nationalen Befreiungsbewegungen Einfluß zu bekommen. Deshalb wurde uns, schon als ich im Oktober 1945 wiederkam, nahegelgt, daß wir mit anderen Emigranten aus dem westlichen Ausland eigentlich keinen Kontakt haben sollten. Das war auch der Grund, warum ich, als der Leo 1947 an die Martin-Luther-Universität nach Halle kam, keinen Kontakt aufgenommen habe. […]
Er wurde dann als Trotzkist beschimpft und mußte gehen. Es war eine Zeit, in der alle, die nicht auf ihrer Linie lagen, von der SED als Trotzkist abgekanzelt wurden, obgleich er ja… […] Ich kann mir nicht vorstellen, daß Leo Kofler irgendetwas an Sympathie für Leo Trotzki gehabt habt. […]

Und dann ist er gegangen. Haben Sie denn danach noch etwas von ihm gehört?

Nein, der H.M., den ich noch ca. einmal pro Jahr gesehen habe, erzählte dann, daß sich Leo Kofler unter erschwerten Bedingungen in Westdeutschland durchschlagen mußte mit seiner Frau, die ja aus Halle kam und mit ihm gegangen ist – was für sie spricht. Nein, Kontakt habe ich gar nicht mehr gehabt. Erst aus Anlaß seines Todes habe ich im „Neuen Deutschland“ eine Würdigung gelesen und daraufhin einen Leserbrief geschrieben. […] Heute bedauere ich zutiefst, daß ich keine Gelegenheit mehr hatte, ihn zu treffen.