Mensch und Ideal. Gedanken zum Problem der Erwachsenenbildung [1960]
Beginnen wir, um das Problem zu verdeutlichen, mit einer aktuellen Frage, die viel Mühe und viele Diskussionen verursacht hat, mit der Frage der Akzeleration. Bekanntlich versteht man darunter das für die heutige Jugend so typische Auseinanderklaffen zwischen dem gesteigerten Tempo in der biologischen und dem gehemmten Tempo in der geistigen und moralischen Entwicklung. Da durch diesen Widerspruch schwerwiegende Erschütterungen der Jugendepoche in der individuellen Entwicklung entstehen mit der doppelten Folge der Herausbildung einer gefährdeten und renitenten Jugend einerseits und der Herausbildung einer Erwachsenengeneration andererseits, die in vielerlei Hinsicht – Eheleben, Erziehung der Kinder, Anteilnahme am gesellschaftlichen Leben usw. – die in der Jugend eingeschlagene Linie fortsetzt und versagen muss, stellt sich die Frage, wo die wirkliche Wurzel dieser Erscheinungen zu suchen ist. Die zunächst überraschende und unglaubwürdig klingende Antwort, die im folgenden begründet werden soll, lautet: in der Entwertung der Werte oder, was dasselbe bedeutet, in der Ideallosigkeit unserer Zeit.
Speziell hinsichtlich der Erscheinung der Akzeleration ist von einem gleichsam anthropologischen Phänomen auszugehen, das weitgehend zur Klärung des „Rätsels“ beiträgt. Die Natur hat es so eingerichtet, dass im Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein, d.h. in der Pubertät, der Mensch in die Disposition gerät, mit Hilfe einer besonderen Empfindsamkeit sich mit der Umwelt und ihren Werten auseinanderzusetzen, sie in einem komplizierten seelischen Prozess zu sondieren und das als einen tragenden Bestandteil der Individualität aufzunehmen, was man Leitmotive zu nennen pflegt.
Die Leitmotive sind von grundlegender Bedeutung für das gesamte spätere Leben, für das sich Bewähren oder Versagen, für die Fähigkeit z.B., eine Ehe würdig durchzuhalten oder erzieherisch erfolgreich auf die Kinder einzuwirken, wobei der Umstand zu unterstreichen ist, dass in einer Gesellschaft mit wenig leitmotivgeformten Individuen ein „Milieu“ entsteht, das sich zusätzlich verheerend auf den einzelnen auswirkt. In den primitiven Gesellschaften früherer Epochen war die Aneignung von Leitmotiven eine Angelegenheit der spontanen Nachahmung, die aber in den komplizierten modernen Gesellschaften nicht mehr ausreicht, weil auch die individuelle Situation wie auch die moralischen und geistigen Belange sich unendlich kompliziert haben. Hier tritt zur spontanen Form der Erziehung, die ihre Geltung behält, die bewusste und systematisierte hinzu, das, was wir dem Begriff der Pädagogik zu subsumieren pflegen. In diesem weitaus komplizierteren und differenzierteren Bereich der Erziehung der jungen Generation weiten sich die Leitmotive naturgemäß aus, müssen sie sich, um einer ernsten Auseinandersetzung mit den Widerständen des Lebens fähig zu sein, verfeinern und zudem aus dem Bezirk des bloß Spontanen herausgehoben werden und ins rationale Bewusstsein dringen, wo sie die Gestalt fester und lebensmaßgeblicher Normen erhalten. In den hochentwickelten Gesellschaften verwandelt sich auf diese Weise ein Teil der spontanen Leitmotive in bewusste Ideale. Das Ideal wird hier geradezu zu einer Bedingung nicht nur der Erziehung, sondern des menschlichen Zusammenlebens überhaupt.
Nun wissen wir, dass sich seit der „fortschrittsgläubigen“ liberalen Zeit des ausgehenden vorigen und beginnenden 20.Jahrhunderts ein neuer Trend durchgesetzt hat: ein überall spürbarer Zug zum Verneinen der Werte, ein bewusster oder unbewusster Nihilismus mit all den Begleiterscheinungen der extremen Individualisierung und Vereinsamung, der ebenso extremen Vermassung, der Vermaterialisierung und im Gefolge davon der Entidealisierung des Zeitbewusstseins. In einem solchen gesellschaftlichen (und deshalb auch familiären) Milieu wird schon der junge Mensch angeleitet, von Idealen nicht viel zu halten, „nüchtern“ zu bleiben, seine materielle Zukunft für wichtiger zu nehmen als seine menschlich-individuelle, sich den Lebensnormen der Erwachsenen möglichst früh anzupassen; und das Erschrecken kommt meist zu spät, wenn man bemerkt, dass diese Anpassung bis ins Gesellige (wie z.B. Nachtschwärmerei), Alkoholische und Sexuelle reicht.
Das heute weit verbreitete und gefährliche Schlagwort lautet: „Gott sei Dank, die Jugend ist nüchtern geworden!“ Man weiß gar nicht, was man der Jugend mit einem solchen Zugeständnis antut. Es passiert dabei nichts weniger, als dass man sie der Fähigkeit beraubt, durch jene gärende „Romantik“ der Pubertät mit Erfolg hindurch zu schreiten, die, wie wir bereits sagten, die Voraussetzung bildet für die positive Grundlegung des gesamten späteren Lebens. Die Herausbildung von Leitmotiven, geschweige denn das Sichauseinandersetzen mit der Welt der Ideale, wird schwer behindert; der junge Mensch springt gleichsam in das Erwachsenensein hinein durch die vorzeitige Nachahmung der Lebensweise und der „Ideale“ der nüchtern-vermaterialisierten Alten, gerät so in eine für ihn und seine Entwicklung noch höchst ungesunde, treibhausartige Atmosphäre, die die biologischen (z.B. sexuellen) Impulse maßlos anreizt, während die seelisch-geistigen Bereiche auf die Befruchtung seitens der der Pubertät unter normalen Bedingungen eigenen Kräfte des Erlebens und Begreifens weitgehend verzichten müssen.
Die „Nüchternheit“ der Jugend erweist sich in einer nihilistischen Welt als eine Katastrophe von gewaltigen Ausmaßen, die nur derjenige nicht als solche zu ermessen vermag, dem nicht die subtilen wissenschaftlichen Mittel zur Durchbrechung des Oberflächenscheins zur Verfügung stehen. Das Merkwürdige ist also, dass das „Rätsel der Akzeleration“ sich löst durch das energische Zurückgreifen auf die nihilistische ldeallosigkeit unserer Zeit, wobei auf dieser Grundlage auch die anderen Faktoren maßgeblich bleiben mögen, auf die gerne hingewiesen wird (Film, Rundfunk, Technik usw.).
Dass selbstverständlich falsch gewählte Ideale sich ihrerseits verheerend auswirken können, worauf gerne gepocht wird, ist schlechthin ein anderes Problem. Wir können uns hier nicht mit der Frage des „materialen Idealproblems“, das wir in Anlehnung an Schelers „materiale Ethik“ (im Gegensatz zur formalen) so nennen, beschäftigen. Es ist denkbar, dass es sich im Spannungsfeld der religiösen, liberalen und sozialistischen Ideale zu bewegen hat, mit welcher Bemerkung wir uns begnügen müssen.
An die Stelle des im politischen Raume vorwiegend diskutierten vulgärmaterialistischen Schlagworts „Eigentum bildet die Voraussetzung für die Persönlichkeit“ müsste die Erkenntnis treten, dass das Ideal die Voraussetzung der Persönlichkeit bildet. Gewiss ist der Mensch zur Persönlichkeitsbildung freier, wenn ihm die Hilfe des Eigentums zuteil wird. Es ist zwischen Voraussetzung und Bedingung zu unterscheiden. Wenn das Eigentum die Voraussetzung der Bildung der Persönlichkeit – besser der menschlich und geistig gebildeten Individualität – ausmacht, so das Ideal die Bedingung. Ohne die Voraussetzung des Eigentums mag die Bedingung des Ideals gehemmt sein, aber ohne die Bedingung des Ideals ist die Voraussetzung des Eigentums wirkungslos, ja sie kann sogar hier ins Gegenteil umschlagen, vernichtend wirken, wie zahllose Beispiele besitzender Individuen unserer Zeit beweisen. Zudem kommt das große, hier nicht zu diskutierende Problem, von welcher Grenze an und unter welchen sonstigen Begleiterscheinungen das Eigentum die gültige Voraussetzung abgibt, um die erwartete Wirkung zu zeitigen. Reicht z.B. das heutige Arbeitereigentum aus, welche Rolle spielt die persönlichkeitszerteilende Arbeitsteilung und Spezialisierung und so fort?
Es ist noch nicht lange her, dass ein führender Wirtschaftsexperte der SPD die Behauptung aufstellte, „Privateigentum gewährt wirtschaftliche Unabhängigkeit und erleichtert die Entfaltung der Persönlichkeit“. In dieser Formulierung ist die Behauptung akzeptabel, aber es ist nicht gesagt, unter welchen Bedingungen das der Fall ist. Eingehende Beobachtungen, die sich auf eine große Zahl mittlerer und größerer Eigentümer richteten, ergaben ein überwiegend negatives Resultat. Die Verarmseligung („Pauperisierung“) der Persönlichkeit und ihres Bewusstseins hat vor diesen Eigentümern nicht haltgemacht. Neben vielerlei von der soziologischen Sicht her erhellten Gründen erscheint als einer der wichtigsten das Hineingeraten in den Strom des zersetzenden Nihilismus, positiv ausgedrückt, die Abstinenz von jeglicher Bindung an ein den Menschen tragendes und leitendes Ideal, und wir müssen hinzufügen: an ein echtes Ideal, das ungeachtet der verschiedenen Möglichkeiten seiner Fassung humanistisch sein muss. Nur die Ausrichtung auf ein humanistisches Ideal ist in der Lage, die starken nihilistischen Tendenzen zur „Formalisierung“ und „Verjenseitigung“ des Empfindens- und Wissensgutes zu paralysieren und ins Positive, d.h. wahrhaft Persönlichkeitsbildende zu wenden. Was heißt aber „Formalisierung“ und „Verjenseitigung“?
Die Formalisierung der Kunst und des Wissens, damit auch der erlebnis- und gefühlsbestimmten Akzente, besteht darin, dass aus Bereichen der persönlichkeitsgestaltenden Auseinandersetzung der Individuen mit den in der Kunst und der Wissenschaft zum Ausdruck kommenden Schicksals- und Freiheitsproblemen des Menschen – u.a. auch den Problemen der Förderung der Persönlichkeit selbst – Bereiche des formalen Kunst- und Bildungsgenusses, des „Kulturgenusses“, wie das Schlagwort heißt, gemacht werden. So entsteht das Vorurteil, dass man den künstlerischen und wissenschaftlichen Produktionen mit größerer „ästhetischer“ und „interessierter“ Objektivität begegnet im Vergleich zu jenen Bemühungen, die in der Kunst und in der Wissenschaft „Partei ergreifen“ wollen, d.h. mit den Maßstäben eines humanistischen Ideals die Aussagen zu beurteilen und zu klassifizieren versuchen.
Aber mit der Formalisierung und Ästhetisierung der Bildungsgüter ist verbunden die Entleerung von jenen, die eigentlichen Inhalte ausmachenden Problemen, die zwar auch eine Art der – eben formalistischen – Persönlichkeitsbildung ergeben kann, aber eine solche, die ihr wahres Ziel verfehlt, sich mit sich selbst schlägt, weil sie genau besehen nichts anderes darstellt als eine der vielfältigen Formen der getarnten Entpersönlichung. Das Resultat ist zumeist die bekannte, sei es bescheiden auftretende oder betonte Bildungsprotzerei, der es nicht um wahre Erkenntnis der Sachverhalte, die sich auf die Existenz des Menschen beziehen, geht, sondern um Selbsterhöhung, um manisch selbstgefällige „Bildung der eigenen Persönlichkeit“, wobei dieses formale Ziel in der in ihm selbst liegenden Umkehrung des Verhältnisses zum Ergebnis führt, dass es im wahren Sinne verfehlt werden muss. Das bescheidene Zurückstellen der eigenen Person im Bewusstsein der Dienstbarkeit an einem zu erkennenden oder zu verwirklichenden Ideal, die relative Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Persönlichkeit angesichts des sich aus dem sachlichen (und nicht formalen) Wissen um die Probleme des Menschen herauskristallisierenden erhabenen Ideals wirkt formend auf den Träger eines solchen Ideals zurück. Umgekehrt ist der Bildungsformalismus eine ungeeignete Grundlage für die Herausbildung echter Ideale und schon aus diesem Grunde ungeeignet, sich in den Dienst der echten Persönlichkeitsbildung zu stellen.
Mit dem Formalismus ist eng jene Erscheinung verknüpft, die wir mit „Verjenseitigung“ bezeichnet haben. Vorerst ist zu sagen, dass mit dieser Bezeichnung hier nicht die bekannte metaphysische Verjenseitigung gemeint ist, die darin besteht, dass die Grenzen der Erfahrung und der Ratio überschritten werden; im Zusammenhang mit unserem Problem bedeutet Verjenseitigung ungefähr sogar das Gegenteil davon, nämlich die Vernachlässigung der objektiven, im Bereiche des Empirischen und Rationalen sich als historisch, soziologisch usw. darbietenden Probleme des Menschen durch deren Ersetzung durch einseitig „ins Innere“‚ ins Subjektive verlegte Teil- oder Scheinprobleme. Die Verinnerlichung der menschlichen Problematik auf Kosten der „äußeren“ bedeutet ein Verschieben der künstlerischen, religiösen und wissenschaftlichen Interessen auf den Boden „jenseits“ des wahren und wirklichen Problemumkreises, der unteilbaren Totalität menschlicher Existenz, von der die „inneren“ Erlebnisse und Einsichten nur einen integrierenden und zudem abhängigen Bestandteil darstellen.
Der gefährliche Schein, der hier entsteht, ist der, als ob die Ausrichtung der Persönlichkeitsbildung auf das subjektive Innere die höhere Form der Bildung im Vergleich zu der vulgären äußeren wäre, die damit verknüpften Bildungs-„Ideale“ deshalb die besseren seien, obgleich bei einiger Überlegung doch offensichtlich wird, dass der „innere“ Mensch von dem lebt und das verarbeitet, was ihm der unendliche Reichtum der totalen Erscheinungswelt menschlicher Existenz zur Verfügung stellt.
Die Überbetonung der Verinnerlichung im Gegensatz zum bloß „Äußeren“ der menschlichen Welt ergibt in Wahrheit eine Aushöhlung, eine Entleerung der subjektiven Erlebnis- und Erkenntnisfähigkeit und die Ersetzung der auf die Totalität menschlichen Seins, auf deren Verständnis, Formung und progressive Veränderung gerichteten Ideale, der echten Ideale durch hohl deklamatorische Scheinideale. Damit hängt zusammen, wie aus dem Gesagten ersichtlich wird, die Ersetzung der echten Formen der Persönlichkeitsbildung durch scheinhafte, weil „verjenseitigte“.
Bei genauerem Zusehen erweisen sich schließlich Formalisierung und Verjenseitigung des Erlebnis- und Erkenntnisgutes als identisch, weil sowohl die formale als auch die verjenseitigte Aushöhlung des Bildungsgutes ein Verlassen des Bereichs der eigentlichen und echten Probleme des menschlichen Seins bedeuten; ihnen können echte, auf das Verständnis der wirklichen Probleme des Menschengeschlechts gerichtete Ideale nicht entspringen, sondern nur scheinhafte subjektive, die jeweils den Träger selbst meinen, in egozentrischer und manischer Selbstliebe ihn über die anderen, die „Masse“ zu erheben versuchen – mit dem gegenteiligen Erfolg allerdings, es sei denn, dass die Aneignung formalen Bildungsgutes und die Ausbildung einer ebenso formalen Fähigkeit zum sensitiven Erleben von der unkritischen Umwelt als Überlegenheit einer höherstehenden Persönlichkeit anerkannt wird, was oft genug der Fall ist. Die undemokratische Manier des überhöhten Subjektivismus, die Simone de Beauvoir ironisch durch das Wort kennzeichnet: „Man muss sich unter allen Umständen von der Masse unterscheiden“, war es gerade, die den echten Idealismus, dessen der Mensch, will er etwas im Sinne der echten Persönlichkeit werden, sein und bedeuten, nicht entbehren kann, totschlagen geholfen hat. Deshalb ist unsere Zeit des überhöhten Subjektivismus und der Missachtung des Ideals so arm geworden an Persönlichkeiten, die im Sinne Goethes nicht unbedingt gleichzusetzen sind mit den „großen Persönlichkeiten“, sondern zunächst mit jenen Individualitäten, die durch besseren Gebrauch ihrer moralischen und geistigen Kräfte zu einer tieferen Erkenntnis des menschlichen und vor allem mitmenschlichen Seins gelangen und darin die Befähigung aufweisen, sich an einem durch eigene Erkenntnisarbeit gewonnenen Ideal zu orientieren.
Wer über ein klares humanistisches Ideal verfügt – ob es im einzelnen richtig ist, ist jeweils stets zu prüfen und ein Problem der demokratischen Diskussion –‚ erst der verfügt über jenen Grad der Bewusstheit, die die Voraussetzung bildet für das Abmessen der Schuld, die jeden von uns trifft hinsichtlich der Verantwortung für das Wohlergehen des Menschengeschlechts. Das vieldiskutierte Schuldproblem erweist sich als unabtrennbar vom Problem des Ideals. Schuldig kann jemand in zweierlei Sinne sein: in einem metaphysischen, wenn er passives, weil unbewusstes Objekt einer unmenschlichen Situation ist, an der er teilhat und die er mitbaut, weil er sie nicht durchschaut – in diesem Sinne ist er gleichzeitig unschuldig eben wegen der Bewusstlosigkeit seines Verhaltens (wie Kafka gezeigt hat); er kann aber auch schuldig sein in einem realen Sinne, wenn er angesichts bestehender Ideale ihnen ausweicht und sich weigert, zwischen ihnen zu wählen, sich vor ihnen ins Formale oder ins Innere, wie wir ausführten, zurückzieht und so die wirkliche Verantwortung für das menschliche Schicksal anderen überlässt. Die letztere Art von Schuld trifft die meisten Menschen unserer Zeit, worin ein Teil (wenn auch nicht die Ursache) dessen liegt, was wir als Vermassung zu bezeichnen pflegen. Die gewollte Abwendung vom Ideal und die damit zusammenhängende „Ohne-mich“-Ideologie nivelliert die Menschen und macht sie erst recht zu dem, was sie infolge ihres vermaterialisierten Ego-Individualismus ohnehin schon sind, nämlich zur uniformen Masse. Auch der formal und verjenseitigt „Gebildete“ ist davon nur scheinbar ausgenommen, nämlich nur in formaler und verjenseitigter Beziehung und nicht in wirklicher. Wenn wir anfänglich darauf hinwiesen, wie wenig Menschen ohne Leitmotive im Sinne des Ideals in der Lage sind, z.B. eine solche mitmenschliche Beziehung längere Zeit durchzuhalten, die Ehe heißt, so sind davon die bloß formal und verjenseitigt gebildeten Individuen nicht ausgenommen, da ihnen die aus dem echten Ideal erfließenden Kräfte, Einsichten und Maßstäbe sinnerfüllten Sichverhaltens einfach fehlen.
Ähnliches gilt für das Problem der Freiheit. Wirklich frei ist in einer Welt des herrschenden „Realitätsprinzips“ (Freud, Marcuse), das erst mit modernen Mitteln in einem langen Prozess abgebaut werden soll, niemand. Aber auch im Bereiche dieser Problematik gilt die Regel (die wir angesichts der Unmöglichkeit, in diesem Rahmen Ausführlicheres zu äußern, als solche sporadisch bezeichnen), dass auf der relativen Grundlage äußerer, d.h. individueller und politischer Freiheit am – wiederum relativ – freiesten derjenige ist, der am schärfsten die Verhältnisse des „Realitätsprinzips“ zu durchschauen und sich gedanklich am konsequentesten herauszuhalten vermag. Denselben Zusammenhang anders ausgedrückt: Am freiesten ist, wer sich am radikalsten an einem weit ausgreifenden, über den Umkreis des Realitätsprinzips hinausweisenden Menschen- und Seinsbild oder, was dasselbe bedeutet, an einem eben solchen Ideal orientiert. An dieser Stelle der Überlegungen tritt das Problem der Utopie mit allen seinen üblichen Missverständnissen, aber auch Gefahren auf, das wir vielleicht in einem späteren Beitrag ausführlich behandeln werden.
Immerhin ergibt sich aus unseren Andeutungen so viel, dass die hier vertretene Freiheitsauffassung in einen konsequenten Gegensatz tritt zu jener der heute weitgehend verbreiteten nihilistischen Prägung, die sich subjektivistisch auf das individuelle Erleben beschränkt und unter Verneinung der Bedeutung der überindividuellen „objektiven“ Werte für frei denjenigen erklärt, der kraft bestimmter Einsichten in der Lage ist, „Verzweiflung“, „Tod“ und „Angst“ auf sich zu nehmen und „aus sich zu machen, was er will“ (Sartre bis Tillich).
Wir glauben, dass es sich hierbei um einen subjektivistisch-morbiden und vor allem illusionären Freiheitsbegriff handelt, der keinerlei erzieherischen Wert besitzt, im Gegenteil den Menschen nur noch mehr, als dies heute ohnehin schon der Fall ist, auf das monomanisch-hohle und damit phrasenhafte Sichbeschäftigen mit der eigenen, gesteigert verkrampften Subjektivität ohne sichtbares Ziel und ohne sichtbaren Erfolg zurückwirft. Gerade in Hinsicht auf das Freiheitsproblem erhellt sich die wahre und unersetzliche Bedeutung des Moments des Ideals innerhalb der Totalität der subjektiven und objektiven Beziehungen, jener Totalität, die nichts anderes darstellt als das, was man die „menschliche Existenz“ zu nennen pflegt, weil sie im letzten Grunde mit ihr identisch ist.
Erstveröffentlichung in: Volkshochschule im Westen, April/Mai 1960, S.4ff. [Nachdruck unter dem Titel „Mensch und Ideal. Über die Notwendigkeit erzieherischer Leitmotive“ in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, Hamburg 2000]
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