Jesus und die Ohnmacht [1974]
Gegen die Konsumgesellschaft erhebt sich die Stimme des Protestes der „Schmutzigen und Langhaarigen“, die öffentlich ihre Ablehnung der bürgerlichen Welt manifestieren; einige erinnern daran, dass Christus – ebenfalls langhaarig und Maria Magdalena zugetan – auch gegen die Pharisäer und die Reichen war.
Prof. Bogdan Suchodolski 1973
Christus ist, unabhängig davon, ob er als historische Erscheinung wirklich existiert hat oder nicht – ähnlich wie Wilhelm Tell, den es bekanntlich niemals gegeben hat -, einerseits zu begreifen als bloße Person, der man bestimmte subjektive Eigenschaften nachsagt und die deshalb im Bereich der religiösen Erziehung zum moralischen Vorbild erhoben worden ist, andererseits aber als Allegorie. Als Allegorie drückt diese Person die quasi ontologische Stellung des Menschen zwischen Sünde und Erlösung aus.
Wie wir noch sehen werden, sind es zeitbedingte Erscheinungen des gesellschaftlichen und menschlichen Verfalls, die das Empfinden des Sündigseins auf der einen Seite und das ebenso zeitbedingte Erlebnis der Ohnmacht, die transzendente Erlösungssehnsucht auf der anderen Seite provozieren. Christi Protest unter der Bedingung der völligen Ohnmacht schlägt um in religiöse Metaphysik als ideelle Form der Überwindung des menschlichen Pauperismus unter Bedingungen, die eine andere, nämlich reale Form der Überwindung nicht zulassen. Marx‘ Protest dagegen schlägt um in realistische Kritik, weil ermöglicht unter Bedingungen, die die Perspektive einer gesellschaftlichen Überwindung am historischen Horizont sichtbar werden lassen. Es ist nicht dasselbe, ob emotionaler Protest in rationale Kritik umschlägt oder die Kritik sich in den Protest zurückzieht und die Grenzen des Emotionalen nicht überschreitet, worin der eigentliche Unterschied zwischen Christus und Marx liegt.
Nicht bloß weil der historische Christus, oder was man dafür ausgibt, der Sekte der Nazarener angehörte, ist er als ein Sektenführer zu definieren. Dass sich aus der Sektenbewegung eine Weltreligion entwickelte, hat zunächst nichts zu sagen; auch die übrigen monotheistischen Religionen haben als Sekten begonnen. Wie bei allen echten religiösen Sekten sind auch im ursprünglichen Christentum mehrere, ineinander übergehende Elemente hervorzuheben:
1. Die kompromisslose Verneinung des Bestehenden, die totale Verweigerung.
2. An dieser ihrer radikalen und totalen Verweigerung dem Bestehenden gegenüber gemessen, treten sie historisch »zu früh« auf, d.h. sie nehmen entweder Entwicklungen späterer Epochen ideell vorweg, oder die Verwirklichung ihrer Forderungen ist insofern nicht zeitgemäß, als die gesellschaftliche und politische Situation ihnen nicht entgegenkommt, noch nicht revolutionär ist; sie sind deshalb »sektiererisch« isoliert.
3. Aus dieser Lage heraus wird bei ihnen das Gefühl der totalen Ohnmacht herrschend.
4. Daraus erfließt wiederum ihr rebellisch-anarchischer Charakter.
5. Die weitere Folge ist die Transposition ihrer Sehnsucht nach Erlösung in ein überirdisches Reich göttlicher Vernunft (religiöses Naturrecht).
6. Die Verdichtung dieser Vorstellung zu einer metaphysischen und verinnerlichten Erlösungsidee, die für die irdischen Mächte der Herrschaft und der Unterdrückung nicht erreichbar ist.
7. Der freiwillige Verzicht auf die von den Herrschenden weitgehend monopolisierten irdischen Güter des Genusses und des Wohllebens, die freiwillige Armut und Askese. (Dass unter dem Druck bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen diese Askese in Akkumulation, die mit der Armut unvereinbar ist, umschlagen kann, ist bekannt, aber ein schlechthin anderes Problem.) Dies alles trifft für Christus und seine Gemeinde zu.
Reduziert man diese Bestimmungen auf die soziologischen Kernpunkte, so stehen diese keineswegs im Verhältnis einer äußerlichen Reihenfolge zueinander, sondern in jenem der Identität: Totale Ohnmacht, totale Verweigerung und Neigung zu anarchischer Rebellion sind voneinander nicht zu trennen. Diese drei Gegebenheiten bilden gleichzeitig die Wesensmerkmale dessen, was im weitesten Sinne sich dem Begriff des Anarchismus subsumieren lässt, d.h. dass Sektentum (um nicht das abwertend klingende Wort Sektierertum zu gebrauchen) und Anarchismus sich letztlich gegenseitig definieren. Denn beide kreisen um die totale Verweigerung, die aus der totalen Verwerfung des Bestehenden und dem gleichzeitigen Gefühl der totalen Ohnmacht erfließt.
Nicht nur ist das dialektisch unvermeidliche historische Pendant zur totalen Verweigerung die totale Ohnmacht, sondern es trifft noch viel mehr zu, dass das Pendant zur gesellschaftlich bedingten totalen Ohnmacht die totale Verweigerung ist. Aus dieser Perspektive lassen sich zwei Hauptformen der totalen Verweigerung ableiten, wobei sich der ersteren die religiöse im allgemeinen und die christliche im speziellen zuordnen lässt.
Die eine Form der totalen Verweigerung konstituiert sich in den antiken und agrarisch-feudalen Gesellschaften. Es ist sowohl für die Sklaven des Altertums wie für die Leibeigenen des Mittelalters bezeichnend, dass sie von sich aus (d.h. ohne den zurückwirkenden städtischen Geist wie im europäischen Mittelalter) nur äußerst selten in Bewegung gerieten. Der Spartakusaufstand war eine Ausnahme. Die mittelalterlichen Zünfte verfolgten in ihren zahlreichen Aufständen ebenso wie die „Proletarier“ der antiken Städte nur sehr begrenzte Ziele, die bürgerlichen Revolutionen aber waren, trotz Unterstützung seitens des Volkes, keine sozialen im eigentlichen Sinne, denn ihr historisches Ziel war die Ersetzung der einen herrschenden Klasse durch eine andere. Sowohl in der Antike wie im Mittelalter bildeten die eigentlichen sozial-oppositionellen Bewegungen die Sekten; sie allein zeigten das Merkmal der totalen Verweigerung. Unter den erwähnten gesellschaftlichen Bedingungen konnte die aus der Verweigerung sich ergebende Rebellion überwiegend nur in einer religiösen Gestalt sich artikulieren.
Die andere Form der totalen Verweigerung gehört der Epoche der kapitalistischen Klassengesellschaft an. Die Allgegenwärtigkeit der verdinglichten Gewalt (die von der je nach Notwendigkeit auftretenden politischen Gewalt unterstützt wird) drängt dazu disponierte Gruppen dahin, das Prinzip der revolutionären Geduld, das auf der abwartenden Kenntnisnahme des reifen Augenblicks beruht, nicht zur vollen Entfaltung kommen zu lassen und provoziert die anarchisch-sektiererische Ungeduld mit ihrer Konsequenz der politisch rebellierenden Verweigerung.
Da beide Formen der Verweigerung in der Ohnmacht wurzeln, sind sie innerlich verwandt, so dass sich der jeweils geltenden Hauptform, d.h. der religiösen auf der einen Seite und der politischen auf der anderen, am Rande dieser Erscheinungen die jeweils entgegen gesetzte zuordnet: Politische Sekten in der Antike und im Mittelalter wie religiöse Sekten in der Gegenwart gehören zum Bild der entsprechenden sektiererischen Tendenzen. Deshalb sind die religiösen Sekten heute noch nicht ausgestorben, sondern umrahmen die politisch-anarchistischen wie Residuen aus einer früheren Zeit. Zu ihrer Zeit jedoch, in der antiken und in der mittelalterlichen, blühten sie aus den erwähnten Gründen der totalen sozialen Ohnmacht in reichem Maße, woraus unter anderem auch alle monotheistischen Religionen emporgewachsen sind, auch und vor allem die christliche. Wie ist das genauer zu verstehen?
Die heidnische, und das ist in ihrer soziologischen Zuordnung stets die antike Vielgötterei, symbolisiert, wenn wir ihre Vielfalt auf einen einheitlichen ideologischen Nenner zu bringen versuchen, die irdischen Herrschaftsverhältnisse in religiös-metaphysischer Form. Daher kennt das polytheistische Heidentum keine Erlösungsidee. Der eine, das Sein zur heilbringenden Einheit zusammenfassende Gott des Monotheismus symbolisiert dagegen in seinem Ursprung die Erlösung vom irdischen Übel oder, was historisch betrachtet auf dasselbe hinausläuft, den totalen Protest gegen die bestehenden Verhältnisse. Dies trifft für die „gottlose“ Nirwana-Idee des Buddhismus genauso zu. Im Sektenführer Jesus wird unter dem Druck der gesellschaftlichen Dekadenz seiner Zeit die in Identität mit dem totalen Protest sich artikulierende Forderung der totalen Erlösung wieder lebendig, die vom jüdischen Priestertum und den jüdischen Schriftgelehrten vergessen, verfälscht und verflacht worden war. Jesus ist nichts anderes als einer der vielen herumwandernden Propheten, aber der einflussreichste unter ihnen und ein Träger dieses sich in religiös-allegorische Form hüllenden, aus der totalen Ohnmacht geborenen totalen Protestes. Hat das jüdische Priestertum den Ursprung der jüdischen Religion im gleichen Prinzip des totalen Protestes längst vergessen und daher den Sinn des jüdischen Monotheismus verfälscht, so greift Christus radikal auf diesen ursprünglichen Sinn zurück, um ihn entsprechend der differenzierteren Sozialität mit volksnäheren Parolen zu versehen, als dies zur Zeit Moses und angesichts der ägyptischen und babylonischen, d.h. vornehmlich nationalen und nicht sozialen Unterdrückung (1500 v.Chr.) möglich war.
Die Verwandtschaft zwischen dem totalen Protest des ursprünglichen Christentums und dem Anarchismus ist evident (weshalb u.a. Tolstoi sehr gut Christ und Anarchist in einem sein konnte). Dass so gut wie fast alle religiösen Sekten bloß friedliche Mittel ihrer Durchsetzung wählten (die Albigenser und die Taboriten waren nicht von Anfang an kriegerisch, sondern griffen erst zu Mitteln der Gewalt, als sie sich in Notwehr befanden), erklärt sich aus einem extremen Zustand der totalen Ohnmacht, die man zum Zwecke der genaueren Differenzierung zusätzlich als absolut bezeichnen muss. Die modernen anarchistischen Bewegungen sind zwar gleichfalls durch das Erlebnis der totalen Ohnmacht gekennzeichnet, jedoch angesichts prinzipiell möglicher gesellschaftlicher Veränderung und Revolution stets am Diesseits orientiert. Sie transponieren daher ihre Idee der Erlösung nicht ins Jenseits und sie weichen der gewaltsamen Auseinandersetzung im Diesseits nicht aus, sondern neigen vielmehr überwiegend zur Anwendung von Gewalt. Im Gegensatz zur religiös-sektiererischen ist die politisch-anarchistische Rebellion überwiegend gewaltsam. Nur in seltenen Augenblicken „klassischer“ historischer Verwicklungen treffen sich beide und vermischen sich, wie z.B. im deutschen Bauernkrieg. Immerhin bleibt auch die politisch-anarchistische Rebellion bloße Rebellion, unterscheidet sie sich von der Revolution, die dem Problem der Umwälzung zwar gleichfalls aus der Perspektive des totalen Protestes, aber nicht aus jener der totalen Ohnmacht und nicht mit den Mitteln der totalen Verweigerung begegnet. Letzteres aus dem Grunde, weil sie weniger in emotionaler und mehr in rationaler Bewältigung der sozialen Probleme mit den gegebenen Mitteln der alten Gesellschaft umzugehen versucht und nur dann zur Gewalt greift, wenn die historische Lage selbst die Möglichkeit hierzu eröffnet. Deshalb ist Christus ein Exponent der Rebellion, aber nicht der Revolution. Deshalb aber auch steht der Anarchismus der Baader-Meinhof-Mahler-Gruppe – trotz der Bejahung der Gewalt und der Diesseitigkeit ihres Strebens – dem Anarchismus Christi näher als der marxistischen Revolution.
Prinzipiell und in seiner reinen Form betrachtet, entsteht der Anarchismus ebenso wie das religiöse Sektentum dort, wo totale Kritik und totale Ohnmacht sich zueinander vermitteln und in totale Verweigerung umschlagen. Deshalb ist der Anarchismus in seinem tiefsten Wesen nicht nur sektiererisch, sondern sind die Sekten auch anarchistisch. Sektierertum, Anarchismus und Rebellion sind im Sinne ihrer notwendigen Zuordnung zueinander identisch. Das bedeutet des weiteren, dass – im Zusammenhang mit unserer Themenstellung: Christus – sowohl die religiösen Sekten wie die politischen anarchistischen Bewegungen gemeinsam haben, bloß rebellisch und nicht revolutionär zu sein. Eine der wichtigsten Lehren, die wir aus dem Studium der Gestalt Christi und unmittelbar oder entfernt ähnlicher Gestalten bis hin zu politischen wie dem Priester Jacques Roux, Bakunin, Blanqui und schließlich Mahler, Baader und Meinhof gewinnen, ist die an sich einfache, dass es in der Klassengesellschaft immer wieder zu Rebellionen kommen muss, besonders, wie wir bereits zeigten, in solchen Ländern und in solchen Epochen ihrer Entwicklung, in denen das Verhältnis der Kritik zu den bestehenden Zuständen entweder weitgehend und dauernd (wie in der Antike) oder vorübergehend (wie in der Gegenwart) das der totalen Ohnmacht ist.
Aus allem, was wir bisher zur Beantwortung der Frage, wie die Gestalt Christi zu bestimmen sei, darlegten, resultiert auch der Unterschied in Hinsicht dessen, was man als das utopische Bewusstsein zu bezeichnen pflegt. Da in der Sklavengesellschaft und in der Gesellschaft, die auf Leibeigenen beruht, die Lösung der menschlichen Problematik auf dem Wege der Herstellung einer harmonischen Ordnung als a priori völlig aussichtslos erscheint, mündet die utopische Zielsetzung in die religiös-metaphysische Erlösungsvorstellung ein und wird mit ihr identisch. In der modernen Gesellschaft wird die Utopie angesichts der unendlichen Möglichkeiten der Begründung einer harmonisch-klassenlosen Ordnung selbst real. An die Stelle der Identifizierung von Utopie und jenseitiger Erlösung tritt die Identität von Utopie und realer Möglichkeit. Auf diesem Boden des real-utopischen Denkens erwachsen die beiden Tendenzen der rational-revolutionären, mit langen Entwicklungsepochen rechnenden und der emotional-anarchistischen, ungeduldig rebellierenden Haltung. Wegen ihrer, der beiden letzteren, Bindung an die reale Utopie hat der metaphysisch-religiöse Christus in ihnen keinen Platz; er folgt ihnen allenfalls als ein Residuum aus einer fremden Zeit. Jedoch bleibt die dialektische Vermittlung aller drei Strömungen zu ihrer gemeinsamen Wurzel, dem totalen Protest, und damit untereinander bestehen. Zwischen Christus und Marx besteht kein antagonistischer Bruch, ist die Ersetzung des zwischen ihnen bestehenden dialektischen Gegensatzes durch eine undialektische Kontradiktion nicht durchführbar.
Hat man den inneren Zusammenhang zwischen dem Gefühl der totalen Ohnmacht und ihrer religiös-protestierenden Artikulation einmal eingesehen, dann verwundert es nicht mehr, dass in jenen Ländern der Jetztzeit, in denen keine ernsthafte revolutionär-marxistisch organisierte Opposition existiert, besonders in den USA, in denen trotz des Aufflackerns einer mächtigen Bewegung der jungen Generation die politische Ohnmacht die Lebensverhältnisse zutiefst charakterisiert, diese Bewegung in eine Jesus-Bewegung ausmündet. Hier hat sich wie sonst nirgends die Dialektik von totaler Verweigerung und Machtlosigkeit in jene ihr eigene Form der kontemplativen Askese verflüchtigt, von der zur metaphysischen Erlösungshoffnung nur ein Schritt ist. Nichts konnte sich hierzu als besserer Kristallisationspunkt anbieten als die Gestalt Christi; sie liegt in der Tradition einer sich von den realen Verhältnissen distanzierenden Kontemplation und ebenso einer sich insbesondere von der Konsumgesellschaft distanzierenden Askese. In der amerikanischen Befreiungsbewegung der Neger gab es vorher bereits Ähnliches.
Was Christus und Marx am auffälligsten verbindet, das ist ihr unbedingter Humanismus, denn beide meinen und erstreben die menschliche Erlösung in ihrer totalen Bedeutung. Das unterscheidet das Christentum wie den marxistischen Humanismus von allen übrigen Strömungen und Klassen, die je eine humanistische Tendenz aufgewiesen haben; auch vom einst revolutionären Bürgertum, das sich in einem humanistischen Glanze zu repräsentieren liebte. Unter Befreiung verstand das humanistische Bürgertum bloße Befreiung kraft Erwerbs von und Verfügung über Eigentum und eng damit verknüpft kraft individueller Bildung, was letztlich auf die bloße Befreiung der Eigentümer und der Gebildeten, beide letztlich als identisch aufgefasst, hinauslief. Die „Person“, d.h. die kraft Muße und Bildung autonome Individualität, »ist der Eigentümer«, sagt Marx im Blick auf den Bürger im Kommunistischen Manifest. Christus und Marx haben dagegen das gemeinsam, dass sie das „irdische Elend“ grundsätzlich, widerspruchslos und kompromisslos verlassen wollen, wenngleich ein gravierender Unterschied bleibt, nämlich der, dass ersterer infolge seiner metaphysischen Haltung abstrakt denkt und sich keine Vorstellungen über die konkrete Gestalt möglicher Erlösung macht, Marx dagegen konkret-theoretisch. Ist auch nach Marx der religiöse Geist „ein Geist geistloser Zustände“, so doch mit umgekehrten Vorzeichen: Drängt sich bei Christus der Geist zu den Zuständen, um sie in sich aufzunehmen und aufzulösen, so drängen sich bei Marx die Zustände zum Geist, um ihn im Sinne der „Aufhebung der Philosophie“ in eine neue Zuständlichkeit aufzuheben. Auf eine etwas lapidare Formel gebracht, kann man sagen: Bei Christus mündet die Kritik in Protest aus, bei Marx der Protest in Kritik, mit der Konsequenz, dass im ersteren Falle die irdischen Verhältnisse als prinzipiell unüberwindbar hingenommen, im anderen Falle aber als aufhebbar kritisiert werden.
Das Verhältnis der Priorität des Protestes gegenüber der Kritik zur Priorität der Kritik gegenüber dem Protest drückt das Verhältnis von Rebellion und Revolution aus. Hinter der Rebellion verbirgt sich die Resignation, getragen vom Zwang des Kampfes gegen die herrschende Unmenschlichkeit unter der Bedingung der Ohnmacht. Der revolutionäre Wille wird dagegen von der Kritik an der herrschenden Unmenschlichkeit unter der Bedingung ihrer prinzipiellen Überwindbarkeit getrieben. Zur Zeit Christi waren Revolutionen in einem die Klassengrundlagen aufhebenden Sinne völlig ausgeschlossen, weshalb die religiöse Rebellion der einzige wirklich mögliche Ausweg war. Zwar kann es auch in der Zeit nach Marx noch immer Situationen geben, in denen das Gefühl der totalen Ohnmacht vorherrscht, aber sie sind vom Wissen um eine spätere und prinzipiell mögliche Revolution nicht abgetrennt; es kann daher Sekten und anarchistische Rebellionen geben, aber sie bleiben Sekundärerscheinungen gegenüber dem Prinzip der marxistischen Revolution.
Sind anarchistische Rebellion – religiöse wie politische – und marxistische Revolution gleichermaßen Kinder des totalen Protestes, so ist noch eine dritte Konsequenz des Protestes, die der subjektiven Renitenz, nicht zu übersehen. Sie wird weder verkörpert durch Christus noch durch Marx, sondern durch »Rudi«, der inzwischen berühmt gewordenen Figur aus Dorothee Sölles Beitrag Gibt es einen kreativen Hass?. (1)
An welchem Punkte die rein subjektive Form der totalen Verweigerung, die Renitenz, die sich in sehr verschiedenen Formen bis zum Kriminellen hin artikulieren kann, in eine über das persönliche Anliegen hinaus objektive, wenn auch stets in anarchistischer Verkleidung sich darbietende und sektiererisch sich organisierende Rebellion umschlägt, ist eine Frage der Umstände und der „zufälligen“ Gaben der Persönlichkeit. Oder anders formuliert: Es ist ebenso eine Frage der Umstände wie der maßgeblichen Individualität, ob die protestierende Haltung der totalen Verweigerung, die auch nach Dorothee Sölle im Bewusstsein der Ohnmacht und im „Hass ohne Hoffnung“ wurzelt, zu einer mehrere oder viele Individuen zusammenfassenden Bewegung sich verdichtet und von historischer Relevanz wird. Ob der Hass des Jungen Rudi, den Sölle zum Beweis- und Demonstrationsmaterial für ihre Analyse macht, in den Hass Christi umschlägt, ist nur eine Frage der Zeit und der zur ideellen Objektivierung befähigten Individualität.
An diesem Punkte unserer Darstellung bietet sich die Notwendigkeit einer Diskussion an, die sich um die Frage sowohl der Beziehungen wie der Differenz zwischen Christus und Marx dreht. Es hat sich inzwischen bereits auch in der bürgerlichen Wissenschaft herumgesprochen, dass es „theoretischer Unsinn (sei) … im Marxismus nur Pseudoreligion oder dergleichen zu sehen“.(2) So unsinnig es somit ist, die marxistisch-utopische Lehre von der klassenlosen Gesellschaft als eine Art „Diesseitsreligiosität“ zu deuten, so hat diese als Vorwurf gemeinte Deutung neben ihrem ideologischen durchaus auch einen theoretischen Grund.
Mit seiner Erlösungsvorstellung bietet Christus eine zwar metaphysisch eingekleidete, aber dem realen Gehalt nach philosophisch verifizierbare Vorstellung von einer unendlichen, asymptotischen Annäherung des Menschen an einen die totale Harmonie und damit die Existenz jenseits aller Entfremdung implizierenden Endpunkt. Der Weg dahin wird nicht, wie bei Marx als der des (für die Lebenszeit Christi aussichtslosen) Kampfes vorgestellt – „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dem biete auch die andere“ (Mt. 5,38) -, sondern der asketischen Entsagung eines gottgefälligen und sittlichen Lebens. Dieser metaphysische Endpunkt ist nicht real gesetzt, sondern bloß gedacht (übrigens ähnlich wie in der marxistischen Erkenntnistheorie der sich ihm asymptotisch annähernde Erkenntnisprozess der bloß als absolute Idee gesetzte Endpunkt der absoluten Wahrheit ist, wie Lenin in Materialismus und Empiriokritizismus ausführt).
Im Denken von Marx verhält es sich differenzierter und deshalb komplizierter, denn hier besagt der Begriff des Endpunktes zweierlei: einerseits das vorläufig gesetzte und aus der kritischen Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Gesellschaft gewonnene historische Endziel der auf die bürgerliche Welt folgenden klassenlosen Gesellschaft, also etwas streng Reales; andererseits eine überhistorische Idee, der nichts weiter zugrunde liegt als die aus dem Begriff des Fortschritts abstrakt deduzierte Vorstellung der Unendlichkeit aller Geschichte – und Geschichte gibt es, solange es Menschen gibt – einem bloß gedanklich-abstrakt zu fassenden und nur in asymptotischer Annäherung zu erreichenden Endzustand entgegen. Ist im Marxismus somit der abstrakte und in den Texten nur mitgedachte, jedoch nirgends ausdrücklich geäußerte, wenn auch zugleich wie bei Engels als Unendlichkeit aller Geschichte (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie) umschriebene Begriff des Endzustandes eine hypothetische Idee, deren zwingende Notwendigkeit sich aus eben dieser Unendlichkeit aller Geschichte ergibt, so bleibt er in der Vorstellungswelt Christi infolge des erstarrten Geschichtsbildes, das die Antike bot und das die Hoffnungslosigkeit hinsichtlich möglicher Befreiung provozierte, dem Transzendenten verhaftet.
Einerseits gibt es also in dem an diesem Orte diskutierten Problemumkreis eine Verwandtschaft zwischen dem Christentum und dem Marxismus, anderseits eine doppelte Differenz. Die eine Differenz besteht darin, dass der abstrakte Begriff des Endzustandes im Christentum eine metaphysische, im Marxismus dagegen eine theoretisch-hypothetische Gestalt annimmt; die andere Differenz darin, dass im Gegensatz zum Christentum der Marxismus die reale Geschichte nicht einfach zum abstrakt definierten Endzustand hin überspringt, sondern sie selbst real voraussetzt und innerhalb ihrer einen Endzustand setzt, nämlich den aus der Kritik des Kapitalismus gewonnenen, dem zugleich der Charakter der Vorläufigkeit zukommt – der Vorläufigkeit deshalb, weil ihm später ein weiteres Ziel, ein weiterer Endzustand folgt und so ins Unendliche weiter im Sinne der asymptotischen Annäherung an die abstrakte Idee des Endzustandes.
Dass aber Christentum und Marxismus bezüglich der Endzustands-Idee im Kern verwandt sind, lässt sich an einer theologischen Kritik an diesem, die im ersten Band der Marxismusstudien der Evangelischen Akademie veröffentlicht ist, erhellen: Nur dass hierbei die Gegenkritik zum Ergebnis kommt, nicht der Marxismus sei eschatologisch inspiriert, sondern dass umgekehrt das Christentum seinen Sinn erst erfüllt in der Hinwendung zum Diesseits – heute, da die historischen Verhältnisse sich seit Christus grundlegend gewandelt haben und die marxistische Lehre den Christen unter die Arme greift, mehr denn je!
Hören wir zunächst die theologische Kritik selbst. Hier heißt es: „In Nationalökonomie und Philosophie gibt Marx seine berühmte Definition des Kommunismus. ‚Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums… ist vollendeter Humanismus-Naturalismus, … ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits … zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.‘ – Aber wenige Seiten weiter heißt es: Der Kommunismus ist die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft, aber der Kommunismus ist nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung, die Gestalt der menschlichen Gesellschaft.“ Der Autor fährt fort, dass er auf den gleichen Widerspruch auch bei den zeitgenössischen Marxisten gestoßen ist. Lefébvre gibt mit Haldane zu, dass der „homme totale“ eine „asymptotische Idee“ sei, also ein Ziel, das als solches nie erreicht werden kann; Kojève dagegen betont den eschatologischen Charakter der hegelschen Geschichtsphilosophie, die durch den Kommunismus „verwirklicht“, „bewährt“ werden soll. Als solcher Glaube an einen Endzustand sei aber der Marxismus Mystik, und Fessard habe nachgewiesen, dass der Kommunismus – freilich ohne es zu wollen – den Endzustand als Einheit von Mensch und Gott definiert. Nach Hegels tiefgreifenden Analysen bedeutet aber ein derartiger kontinuierlicher Fortschritt einen „endlosen Progress“, d.h. niemals das Erreichen des Endzustandes, der vielmehr zu einem ewig nur sein sollenden, jenseitigen Ideal wird. Verzichtet der Marxismus jedoch auf die Erkenntnis des Endzustandes und akzeptiert Marxens zweite Definition, die wohl mit dem kontinuierlichen Fortschritt vereinbart werden kann, dann wird zugleich der Sinn der Geschichte als solcher problematisch, und es fehlt jeder Nachweis dafür, dass dieser nächste Schritt tatsächlich ein Fortschritt ist (S.208f.). Der Autor zieht den Schluss: „Der Marxismus kann … als ‚christliche Irrlehre‘ verstanden werden, als ein Teilchristentum, das ein bestimmtes Element der christlichen Hoffnung mit Leidenschaft ergriffen, absolut gesetzt und gerade auf diese Weise verderbt hat“ (S.216). Es ist zunächst kurz zu zeigen, dass der Begriff des unendlichen Fortschreitens der menschlichen Gesellschaft zu immer höheren Stadien ihrer Existenz sich aus dem Wesen der Geschichte auch dann deduzieren lässt, wenn der Maßstab eines die Geschichte endgültig abschließenden „metaphysischen“ Endstadiums nicht in Betracht gezogen wird.
Der Mensch macht nicht Geschichte, weil es ihn langweilt und er sich nach Abwechslung sehnt, sondern weil sein teleologisch strukturiertes Bewusstsein ihn in die Lage versetzt, alle seine Handlungen auf Ziele hin auszurichten, die den sichtbaren oder verborgenen Sinn haben, die Schranken seiner jeweiligen, »partiellen« (Lukács) Existenz zu sprengen oder, was dasselbe ist, Schritte der Befreiung von irgendwelchen Schranken der Freiheit zu vollziehen. Ohne dass wir im gegebenen theoretischen Zusammenhang das Problem der Widersprüchlichkeit dieses Prozesses (Irreführung, Interessenantagonismus, Rückschritt, Zusammenbruch und überhaupt das Tragische in der Geschichte) berücksichtigen können, genügt es hier, darauf hinzuweisen, dass Geschichte nicht anders zu verstehen ist denn als ein Prozess, der aus der Vielfalt der Bestrebungen der teleologische Ziele der Freiheit setzenden Individuen entspringt und in der Gesamtheit, im Durchschnitt eine (widerspruchsvolle) Stufenfolge von immer höheren Stufen der Freiheit darstellt. Die Menschen pflegen übrigens diesem Sachverhalt auch zu entsprechen, indem sie von den im Vergleich zu den früheren heute freieren Ordnungen sprechen. Die Aufeinanderfolge von immer höheren Stufen der Freiheit heißt Fortschritt. Auch die Beziehung des Begriffs des Fortschritts zum Begriff des „Gattungsmäßigen“ und zum Begriff der „Selbstverwirklichung“, die beide von Marx stammen, können wir in diesem Rahmen nicht behandeln. Es sei nur so viel bemerkt, dass sich das Problem nicht im Hinweis auf das teleologische Streben des Individuums erschöpft, dass vielmehr aus der Vielfalt der individuellen Manifestationen in den größeren historischen Dimensionen mehr als die bloße Summe der partiellen individuellen Bestrebungen herauskommt, etwas Größeres und Erhabeneres, etwas „Genialeres“, so dass es durchaus, wie insbesondere in unserer Zeit, vorkommen kann, aber für alle Klassengesellschaft typisch ist, dass die in den realen Möglichkeiten beschlossene „Genialität“ der Epoche in hohem Maße entwickelt ist, jedoch die widersprüchlichen Umstände die Mehrheit des Volkes daran hindern, an ihr teilzunehmen. Aber eben deshalb drängte das einzelne Individuum unbewusst und die Zeit ihrer permanenten Notwendigkeit entsprechend auf die Auflösung dieses Widerspruches, was eben wiederum den Fortschritt vorantreibt. Prinzipiell gilt: Indem das einzelne Individuum an der „Genialität“ seiner Zeit durch die Teilnahme an dieser Zeit indirekt teilnimmt, ist es selber „genial“, der Träger des nächsten historischen Schritts, der hier und dort (z.B. in Deutschland) national verhindert werden kann, aber gattungsmäßig nicht aufzuhalten ist.
So besehen und zunächst gibt es also für Marx kein absolutes Endziel, in welchem „Mensch und Gott identisch werden“, sondern nur ein unendliches Fortschreiten der Geschichte. Aber der logische Gedanke einer Sache ist zugleich die logische Konsequenz einer Sache, und diese Konsequenz drängt zur „philosophischen“ Verallgemeinerung mit dem Ergebnis der Setzung einer abstrakten Idee, die, wie wir bereits sagten, abstrakt ist, weil die ihr zugrunde liegende Vorstellung eines absoluten Endziels sich aus der bloßen Abstraktion von den vielen konkreten historischen Zielen der Gattung Mensch ergibt, die aber ihrerseits stets als Endziele erlebt und begriffen werden. Dieser Sachverhalt ist es und kein anderer, der seinen theoretischen Niederschlag in der Bestimmung von Marx findet, dass der Kommunismus – hier verstanden als das absolute Endziel menschlicher Entwicklung überhaupt – „vollendeter Naturalismus-Humanismus“ ist. Reduzieren wir aber diese abstrakte Vorstellung des Endziels auf den asymptotischen Fortgang zu ihm und fragen in diesem Sinne nach den realen Zwischenzielen („Endzielen“) auf dem Wege zu diesem bloß logisch gedachten Ziel, so erscheint der Kommunismus, hier als der nächste historische Schritt verstanden, als „die notwendige Gestalt und das energische Prinzip der nächsten Zukunft“, aber er ist „nicht als solcher das Ziel der menschlichen Entwicklung“. Hätte der junge Marx geahnt, welche Verwirrung in den Köpfen der Theologen er dadurch anrichten wird, dass er für die beiden, allerdings dialektisch identischen Bestimmungen dasselbe Wort, nämlich „Kommunismus“, verwendet, dann hätte er bestimmt eine terminologische Differenzierung vorgenommen. Die dialektische Identität zwischen den beiden Bestimmungen liegt darin, dass der Kommunismus als der nächste historische Schritt infolge der Aufhebung des Privateigentums (an den gesellschaftlichen Mitteln der Produktion) jenen ersten und entscheidenden Schritt in der Verwirklichung des Humanismus setzt, der den „Widerspruch zwischen Mensch und Mensch“ überwindet, zugleich aber mit diesem Schritt das Tor geöffnet wird auf dem Wege des unendlichen Fortschreitens der Geschichte zum abstrakt deduzierten Endziel aller Geschichte, der totalen Identität des Menschen mit sich selbst.
Wir haben nunmehr die Schlussfolgerung zu ziehen in Bezug auf das Verhältnis von Marxismus und Christentum. Steht die theologische Kritik hilflos vor dem Graben, der sich zwischen dem humanistischen Kampf um das sozialistische „Endziel“ und der ebenso humanistischen Anerkennung des „unendlichen Fortschritts“ in aller Geschichte auftut, so merkt sie nicht, dass ihr dieser Graben selbst zum Verhängnis wird.
Drehen wir einmal den Spieß um und fragen wir nicht nach dem Sinn der marxistischen, sondern der christlichen Erlösungslehre. Es kommt hierbei etwas Überraschendes heraus. Nämlich, dass der christliche Gedanke der Erlösung sich sinnvoll nur fassen lässt als dialektische Einheit von erstrebenswertem endlichen Ziel und unendlichem Fortschreiten einem abstrakt (metaphysisch) gesetzten, vollkommenen Erlösungsideal entgegen. Möge im christlichen Denken die Beziehung von konkret erreichbarer „Erlösung“ (z.B. durch den Glauben, die gute Tat und durch die Versittlichung) und der Annäherung an den Endzustand der Erlösung durch die Wiederkehr Christi weitaus abstrakter gefasst sein, was sich, wie wir zeigten, aus der Lebenszeit Christi erklärt, der Sinn der dialektischen Einheit von erstrebenswertem, diesseitig gesetztem „Endziel“ und „unendlichem Prozess“ der Geschichte ist genau derselbe wie im Marxismus. Hätte die Vorstellungswelt der christlichen Heilslehre nicht den dialektischen Sinn, zu vermitteln zwischen dem abstrakten Endziel der Erlösung, dem die Menschheit in einem unendlichen Prozess entgegengeht, und den erreichbaren Zwischenstadien, den relativen Endzielen, dann hätte sie überhaupt keinen Sinn, sondern wäre bloßes Pfaffengerede, für das die bürgerliche Philosophie des 18.Jahrhunderts sie hielt.
Diese Philosophie verstand nicht, dass auch die im Bewusstsein der Völker tief wurzelnden religiösen Anschauungen ihren guten Sinn haben und die Theologie eigentlich nichts tut oder tun sollte, als sie auf die Höhe der Theorie zu erheben – was allerdings oft genug Hand in Hand ging mit ihrer Anpassung an bestimmte, nicht gerade volkszugewandte Tendenzen. Die Heilslehre Christi ist in ihren letzten Wurzeln, richtig verstanden und sinnvoll gedeutet, nichts anderes als der religiöse Ausdruck jener zu allen Zeiten im Volke lebendigen Sehnsucht nach tatsächlicher Erlösung und der damit eng verknüpften christlichen Vorstellung, dass das Menschengeschlecht sich auf dem Wege des „Heils“ der endgültigen Erlösung in einem unendlichen Prozess annähert. Zwischen der marxistischen und der christlichen Auffassung ist somit ein geringerer Unterschied als zwischen dieser und vielen theologischen Auffassungen von heute. Dieser Gemeinsamkeit gegenüber besitzt die oben aufgewiesene Differenz zwischen der Haltung der Rebellion und jener der Revolution, und was sich daraus an weiteren Konsequenzen ergibt, ein geringeres Gewicht. Was Christus und Marx zutiefst verbindet, ist die Haltung der Verweigerung gegenüber den elenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Pseudochristliche, weil diese Verweigerung mit der Absicht der Anpassung umgehenden Redewendungen wie die von der „Liebe“, die „die Kirche in den Kampf um die zukünftige Gesellschaft hineintragen“ muss (Marxismusstudien, S.243), erfüllen nur den Zweck, die wahre Bedeutung der christlichen Heilslehre zu verdecken.
Das wohl gravierendste Unterscheidungsmerkmal zwischen Christus und Marx liegt darin, dass die nach der Auffassung des Marxismus nicht anders denn im Historischen selbst begründete Entfremdung in der christlichen Auffassung zum Sündenfall ontologisiert wird. Während im Christentum der Mensch sein Leben mit schicksalhafter Zwangsläufigkeit nach dem Gestus des Sündigseins gestaltet, setzt Marx dem die These entgegen, dass der Mensch durch die Fähigkeit sich auszeichnet, sein Leben „nach den Gesetzen der Schönheit zu formieren“. Dieser Gegensatz ist nicht zufällig oder äußerlich gesetzt, sondern die implizite Folge des urchristlichen Erlebnisses der totalen Ohnmacht und der aus ihr fließenden Notwendigkeit, die Erlösung ins Metaphysische zu verlegen: Unter dem Drucke dieser Ohnmacht und der urchristlichen Verweigerung der Welt gegenüber muss diese Welt als total böse, d.h. als Ergebnis des Sündenfalls deklariert werden, weil anderenfalls nicht einsichtig wäre, weshalb die vom irdischen Übel erlösende Tat nicht doch im Bereich der bestehenden Verhältnisse erfolgreich versucht werden könnte. Wie die Logik der totalen Verweigerung unter der Bedingung der totalen Ohnmacht die religiöse Metaphysik ist, so ist die Logik der totalen Ohnmacht unter der Bedingung der totalen Verweigerung die ontologisierte Sünde, in deren Blickfeld der Mensch sich erst im Jenseits „nach den Gesetzen der Schönheit formieren“ kann.
Diese Differenz zwischen dem marxistischen Optimismus und dem christlichen Pessimismus ist ungeachtet der sonstigen von uns aufgewiesenen Berührung zwischen Christentum und Marxismus nur abstrakt überwindbar mittels der Idee der asymptotischen Annäherung an einen abstrakt gesetzten Endpunkt menschlicher Totalität. Der Weg dahin ist im Christentum der Weg im Bewusstsein prinzipieller Sünde, dagegen im Marxismus im Bewusstsein prinzipieller Schönheit – wenn auch jeweils mit den umgekehrten Vorzeichen, dass der Mensch in der christlichen Lehre der Sünde durch sittliches und gottgefälliges Leben partiell widerstehen kann, der freie Mensch der marxistischen Lehre unweigerlich durch die Entfremdung hindurch muss.
Allerdings bleibt noch eine Frage offen, die zu entscheiden den Theologen anheim fällt. In den Äußerungen Christi ist zwar vom Jüngsten Gericht die Rede, aber von einer grundsätzlichen ontologischen Bestimmtheit des irdischen Lebens durch die Sünde nirgends. Er unterscheidet zwischen den Guten und den Bösen, die Guten sind dem Fatum der Sünde noch nicht unterworfen. Letzteres beginnt, wenn ich nicht irre, erst bei Paulus, ist somit ein späteres ideologisches Produkt, um von da an in zunehmendem Maße zur Wirkung zu gelangen.
Anmerkungen:
(1) In H.-E. Bahr (Hrsg.): Politisierung des Alltags, Neuwied 1972, S.258. Um das Problem der sozialen Ohnmacht dreht sich die Untersuchung: Herrschaft und Alltag, im selben Band, S.126f. und 129ff.
(2) Bernard Willms: Entwicklung und Revolution, Frankfurt/M. 1973, S.285.
Zuerst erschienen in I.Fetscher/M.Machovec (Hrsg.): Marxisten und die Sache Jesu, München/Mainz 1974, S.46-61. Nachdruck in Leo Kofler: Geistiger Verfall und progressive Elite. Sozialphilosophische Untersuchungen, Bochum: Germinal-Verlag 1981.