Die Bewusstseinsanthropologie im Materialismus von Karl Marx [1983]
Sie wissen es nicht, aber sie tun es.
Karl Marx
Arbeit und Bewusstsein
Anthropologie im Rahmen marxistischer Theoriebildung wird von den meisten Theoretikern des Marxismus verworfen. Dies hat seine durchaus verständlichen Gründe. Erstens zeigt die traditionelle und das heißt bürgerliche Anthropologie die Neigung, den Menschen aus dem historischen Raum, in dem er einer ständigen Veränderung seiner Daseinsweise unterworfen ist, herauszulösen und ihm ein metaphysisch-unveränderliches „Wesen“ zu unterstellen. Ein solches unveränderliches „Wesen“ als Bedingung für die menschliche Veränderlichkeit (!) nehmen zwar auch wir an, es bleibt aber in der marxistischen Sicht rein formal, d.h., es bleibt Bedingung, hat aber keinerlei Einfluss auf die Geschichte und auf den in ihr agierenden Menschen (vgl. meine Schrift Aggression und Gewissen u.a.).
Zweitens wird der Mensch abseits aller materiellen Zusammenhänge, etwa nach dem Vorbild Schelers, rein idealistisch als Geistwesen interpretiert. Und wo die moderne biologistische Variante à la Gehlen sich durchsetzt, entsteht nur ein neuer, idealistisch (z.B. ethisch oder elitär) verbrämter Vulgärmaterialismus von einem, wenn auch intelligenten, so doch höchst fragwürdigen Ideenkonstrukt. Die Gefahr liegt darin, dass sich marxistische Theoretiker finden, die diesem Biologismus, ihn variierend, auf den Leim gehen, weil er ihnen „materialistisch“ erscheint.
Der Aufweis einer marxistisch-dialektischen Anthropologie müsste diesem Beitrag vorausgehen, was jedoch der (vorgeschriebene) Raum verbietet. Der anthropologischen Gegebenheiten im Historischen Materialismus gibt es viele – z.B. der Arbeit, der teleologischen Setzung, der Bewusstseinsbestimmtheit, der Vergesellschaftung usw. Entscheidend bleibt hierbei die Tatsache der anthropologischen Bewusstseinsgebundenheit – „Transzendentalität“ – des Sozialwesens Mensch und aller seiner materiellen wie ideellen Äußerungen. Entscheidend deshalb, weil sich der Mensch, auch nach Marx, durch diese Bewusstseinstatsache und damit dialektisch identisch durch Telos, Arbeit, Begriff und Sprache geradezu definiert.
Gegen alle Missverständlichkeit und Ungenauigkeit in der Rezeption der Marxschen Theorie sei klargestellt, dass hier nicht von dem Bewusstsein als der ideologischen Inhaltlichkeit der historischen Gesellschaften die Rede ist, sondern von der prinzipiellen anthropologischen Fähigkeit zu denken, damit sich Ziele zu setzen, im Dienste dieser Ziele zu arbeiten, soziale Beziehungen einzugehen, Begriffe zu bilden und zu sprechen. Die gelegentliche Behauptung, dass es bereits vor dem Menschen Arbeit und Sprache gegeben hat, kann nur in das Reich des biologistisch befangenen Sophismus verwiesen werden. Denn wenn sich der Mensch durch Bewusstsein, Arbeit und Sprache definiert, dann beginnt er logischerweise genau an jenem Schnittpunkt der Entwicklung, an dem Arbeit und Sprache erstmalig auftreten.
Zugleich muss alle anthropologische Begrifflichkeit als eine überhistorisch-formale verstanden werden, d.h. als eine solche, die zwar bestimmte Möglichkeiten menschlichen Verhaltens bedingungslos voraussetzt, jedoch von sich aus historische Inhalte welcher Art immer niemals hervorbringt. Verantwortlich für die Erzeugung dieser Inhalte sind ausschließlich die historischen Bedingungen selbst. Im Zuge der Ausarbeitung meiner anthropologischen Ansichten habe ich bereits vor vielen Jahren unterstrichen: „Eine ‚reine‘ anthropologische Existenz des Menschen unabhängig von seinem geschichtlichen Sein ist daher für den dialektischen Begriff eine nicht durchführbare Vorstellung.“ Die anthropologische Problematik des Bewusstseins setzt sich im Historischen Materialismus fort.
Auch der praktisch („ökonomisch“) tätige Mensch kann anthropologisch nicht anders gedacht werden denn als ein mit Hilfe des Kopfes tätiger, d.h. als Bewusstseinsbegabter Mensch. Dazu bemerkt Engels im Ludwig Feuerbach: „In der Natur sind es … lauter bewusstlose blinde Agentien, die aufeinander einwirken … Dagegen in der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewusstsein begabte, mit Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichts geschieht ohne bewusste Absicht, ohne gewolltes Ziel.“ Aber es sind dies zugleich die augenblicklichen Bedürfnisse und Verhältnisse, die das Individuum bewegen, sich dieses oder jenes Ziel zu wählen. In erster Linie erweist sich die zielgerichtete Tätigkeit als ein Element der unmittelbaren Praxis, in zweiter Linie als eines abgeleiteter Interessen, nämlich ideologischer. Bemerkenswert ist hieran, dass selbst die gesellschaftliche Bedingtheit der Zielwahl und des Handelns, das auf ihr beruht, ein allgemeines, für alle Gesellschaft und alle Geschichte gültiges anthropologisches „Gesetz“ darstellt, das eben wegen seiner anthropologisch-formalen Gemeingültigkeit in seiner Wirksamkeit weder gesteigert noch abgeschwächt werden kann, sondern „schlechthin“ oder „überhaupt“ zutrifft. Erst die Geschichte selbst füllt es mit konkretem und unendlich differenziertem Inhalt; erst die Geschichte selbst ist für die tatsächlichen Auswirkungen dieses anthropologischen „Gesetzes“ verantwortlich. Aber diese „Geschichte selbst“ ist wiederum nichts anderes als die unter ursächlichen Bedingungen, die von ihr selbst gesetzt werden, vollzogene Realisierung der anthropologisch-formalen Möglichkeiten, die dem Menschen als solchem mitgegeben sind, ihn als solchen, in seinem anthropologischen Wesen definieren. Diese Dialektik von Anthropologisch-Formalem und Historisch-Inhaltlichem voll zu begreifen stößt erst die Tür auf zum wirklichen und allseitigen Verständnis des Historischen Materialismus.
Wenn Marx in seinem berühmten Vergleich zwischen dem Baumeister und der Biene auf den grundsätzlichen, ein nicht bloß quantitatives, sondern absolut qualitatives Faktum ausdrückenden Unterschied zwischen Mensch und Tier hinweist, so ist ihm hierbei der Baumeister oder der tätige Mensch (der „Arbeiter“), aber auch ebenso der Sklave oder der Leibeigene oder der Zunftgeselle völlig gleichgültig; sie bilden in dem gemeinten Zusammenhang nur beispielhafte Symbole für jegliches Individuum in seiner Tätigkeit. Er verweist hier auf anthropologische Sachverhalte. In dieser Sicht liest sich das bekannte Zitat anders denn als ein im bloßen ökonomietheoretischen Zusammenhang stehendes, was es auch ist. Wir geben es ganz wieder. Man achte hierbei besonders auf den Ausdruck „von vornherein“, was soviel besagen will wie prinzipiell, übergeschichtlich oder in unserer Sprache formal:
„Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopfe gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck.“
Diese Stelle aus dem ersten Band des Kapital drückt darüber hinaus noch mehr als einen anthropologischen Tatbestand aus, nämlich zusätzlich noch eine theoretische Perspektive, die den gesamten Historischen Materialismus im Kern charakterisiert und den wir hier gegen alle jene hervorheben, die den wirklichen qualitativen Gegensatz zum mechanistischen Vulgärmaterialismus noch immer nicht verstanden haben: Das wirklich bedeutende in der Marxschen Konzeption des Historischen Materialismus ist nicht so sehr seine einfache Gegnerschaft zu jeglichem Idealismus – obgleich diese wichtig genug ist -‚ sondern etwas völlig Neues in der modernen Geschichte des Geistes, nämlich die dialektische Aufhebung des Gegensatzes von einseitigem, undialektischem Idealismus und einseitigem, undialektischem Materialismus gegeneinander. Die Dialektik von „ideellen Vorstellungen“ und tätig-ökonomischen „Formveränderungen des Natürlichen“, diese dialektische Einheit von Ideellem und Materiellem ist es, die den Marxschen Materialismus ausmacht.
Die tätige Verwirklichung des in der „Vorstellung“ (Marx) vorschwebenden praktischen Zieles ist die Arbeit. Das Tier kennt keinen bewussten Zweck und daher auch nicht die Arbeit. Das „Materielle“ an der Arbeit besteht in dreierlei: 1. muss sich die Arbeit nach den Arbeitsobjekten richten, 2. nach den Hilfsmitteln, mit denen sie die Naturgegenstände zu ihren Objekten macht und umformt, den Werkzeugen („Produktivkräften“), und 3. nach den Beziehungen, die die Individuen in der Arbeit eingehen. Hierbei ist, in Abgrenzung gegen ein noch immer anzutreffendes Missverständnis, das Stehenbleiben bei den gegenständlichen Bedingungen der Arbeit als dem angeblich letzten bestimmenden Faktor, als ein Rückfall in den mechanischen Materialismus zu klassifizieren, als eine krasse Verletzung der Dialektik von Ideellem und Materiellem. Während die Werkzeuge und die zwischenindividuellen Bedingungen historisch gewordene Faktoren sind, handelt es sich bei den gegenständlichen Bedingungen, sofern wir auf ihre noch urwüchsige, nicht bereits selbst bearbeitete Gestalt stoßen, um konstante Faktoren, die in ihrer Beziehung zum Menschen anthropologische Bedeutung annehmen.
Ihr anthropologischer Charakter lässt sich bereits daran erkennen, dass sie dem gesellschaftlichen Sein vorausgehen und bloße formale Möglichkeiten darstellen. Aus ihnen lässt sich (wie die alten naturwissenschaftlichen Materialisten glaubten) die gesellschaftliche Dynamik nicht ableiten. Es gehört zu den wichtigsten Entdeckungen des Historischen Materialismus, dass die ökonomische Gesetzlichkeit nirgends den Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse überschreitet, ja, dass beide identisch sind. Deshalb löst Marx die dem Schein nach dinghaft bestimmten Verhältnisse in rein gesellschaftliche Verhältnisse auf oder noch radikaler: in „Gedankenformen“ (Kapital I, 1947, S.81). Dies nicht begriffen zu haben, produziert die heillosesten Vorwürfe gegen marxistische Theoretiker, hier z.B. gegen Lukács.
Da heißt es: „Der Fetischcharakter der Ware wird so primär als Vorgang der Bewusstseinsverfälschung … begriffen, statt als wirkliches Beherrschtwerden der Warenproduzenten durch die Dinge, die sie selbst gemacht haben.“ (Theorie und Ideologie, Argument-Sonderband, Berlin 1979, S.50)
Die These von der Herrschaft der „Dinge“, auch jener, die wir selbst gemacht haben, bedeutet einen Rückfall in die schlechthin vulgärste Form des Materialismus. Für den wissenschaftlichen Umkreis des Historischen Materialismus gibt es nichts, was nicht Ausdruck des Verhältnisses Bewusstseinsbegabter Individuen untereinander ist, also nichts, was nicht „ideologisch“ wäre. Unter anderem zählt Marx auch die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie zu den, wie er im Kapital wörtlich sagt, „ideellen Daseinsbedingungen“. Noch genauer: Nach Marx erscheinen die ökonomischen Kategorien als feste „Naturformen“ – „Dinge“, die uns beherrschen, nach der Vorstellung des Autors des obigen Zitats -‚ wo sie in Wahrheit doch nur Gedankenformen darstellen (Quelle: s.o.).
Marx gelingt eine solche Interpretation, indem er die ökonomischen Dingverhältnisse als kategoriale Phänomene der Verdinglichung (er spricht ausdrücklich von „Kategorien“), das bedeutet der ideologischen Entartung sozialer Beziehungen in der Arbeit zu „Dingen“ (Geld, Kapital, Maschine, Ware, Wert, Profit, Bodenrente), theoretisch auflöst. Stets sind es die „in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens“ von den Menschen eingegangenen Verhältnisse, und das sind stets „ideelle“ Verhältnisse oder „Gedankenformen“, innerhalb deren Grenzen sich Verdinglichung konstituiert. Stets handelt der Mensch ideell, „seinem Zweck gemäß“.
Worauf es uns in diesem Zusammenhang vor allem ankommt, das ist die ideelle Beschlossenheit (die „Transzendentalität“) aller gesellschaftlichen, damit auch ökonomischen Vorgänge im Bewusstsein, womit wir auf einen grundlegenden anthropologischen Tatbestand stoßen.
Mit welcher Konsequenz Marx die „Gegenstände“ als Objekte der Arbeit dieser selbst gegenüber zurücktreten lässt, erkennt man besonders deutlich, wenn er sagt: „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen.“ Das „Was“, das Ding, hat keine Macht über den Menschen. „Im Arbeitsprozess bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch die Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Gegenstandes.“ Von „vornherein“ bezweckte! „Ist die Arbeit“, so Marx, „zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen eigenen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt, kontrolliert“, und „unterwirft er das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit“, so ist diese „seine eigene Tat“ nur möglich als gesellschaftliche Tat, denn der Mensch ist, wie Marx sagt, ein Wesen, „das nur in Gesellschaft sich vereinzeln kann“. Das anthropologische Prinzip, durch das der Mensch in eine notwendige und unauflösliche Beziehung zum Mitmenschen gerät, liegt in der bereits aufgewiesenen anthropologischen Identität von Bewusstsein und Arbeit, wodurch sich der Mensch definiert. Die Menschen bedienen sich der „Möglichkeit“, die hier nicht als konkrete, einem bestimmten historischen Prozess entstammende Möglichkeit verstanden wird, sondern eben als formale, die z.B. auch die Mehrarbeit unter kapitalistischen Bedingungen ermöglicht: „Die Gunst der Naturbedingungen liefert immer nur die Möglichkeit, niemals die Wirklichkeit der Mehrarbeit.“ (Von mir kursiviert.)
Dass Marx auch das Vergesellschaftungsprinzip nicht bloß historisch, sondern grundlegend anthropologisch einschätzt, beweisen solche Formulierungen, die sich auf keine ganz bestimmten, historisch gewordenen Gesellschaftsformationen beziehen, sondern auf alle Geschichte, auf die Geschichte überhaupt: „In der Produktion ihres Lebens wirken die Menschen nicht allein auf die Natur, sondern auch aufeinander. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeit gegeneinander austauschen.“ Auf welche „bestimmte“ Weise die Menschen zusammenwirken und welche „Gesellschaftsform“ er meint, sagt Marx nicht und kann es auch nicht sagen, denn sein Gedankengang meint nichts weniger als den anthropologischen Tatbestand des Vergesellschaftungscharakters aller Produktion.
Sinne, Trieb und Selbstverwirklichung
Die von Marx radikal hervorgehobene und in ihrem Wesen als anthropologisch zu definierende Bewusstseinsgebundenheit ausnahmslos aller Phänomene der gesellschaftlich-historischen Existenz des Menschen lässt auch die an sich rein biologische und den Menschen vom Tier nur graduell unterscheidende Tatsache der Sinne nicht aus. In Zuordnung zum Gesamtbild, das wir uns anthropologisch vom Menschen machen, stellen die Sinne die Werkzeuge der Trieb- und Bedürfnisbefriedigung dar. Jedoch gerade als Werkzeuge, als Mittel der Befriedigung kommen sie beim Menschen anders als beim instinktgesteuerten Tier in Gebrauch, nämlich mittels der Bewusstseinsmäßigen Reflexion.
Was im Anschluss einer falschen Deutung des Marxschen Begriffs der „Entwicklung der Sinne“ richtiggestellt werden muss, ist folgendes. Einerseits, dass das Sinnennetz einen streng anthropologisch-formalen Charakter aufweist: Die Möglichkeit z.B., den Tastsinn in einem Konflikt zur Erzeugung von Schmerz zu benützen, fällt nicht zusammen mit der historischen Ursache der Absicht, Schmerz zu erzeugen. Andererseits und eben wegen dieser formalen anthropologischen Wesenheit der Sinne ist ihr prinzipiell unveränderlicher Charakter hervorzuheben. Was sich an den Sinnen verändert und „entwickelt“, das sind nicht sie selbst, sondern wie bei allen anthropologischen Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Existenz ihre Anwendung, die gesellschaftliche Ursachen hat. Die Dialektik von anthropologisch-unveränderlichen Möglichkeiten und historisch-veränderlicher Wirklichkeit menschlicher Existenz wird am Phänomen der Sinne ganz besonders deutlich.
Spricht demgemäß Marx von der „Entwicklung“ der Sinne, so meint diese Aussage nichts anderes, als dass der geschichtlich agierende Mensch es in Ablösung der historischen Perioden vornehmlich und in Auseinandersetzung mit der Umwelt lernt, die Sinne (Sinnlichkeit) in der Liebe – man beachte die Variation der Formen in der Promiskuität, der Polygamie, Polyandrie, Einehe, Homosexualität, lesbischen Liebe und Askese, bei welchen Formen die Sinne in ihrer formal-biologischen Konsistenz stets dieselben bleiben -‚ in der Kunst, in der Technik bis hin zu den extremsten Ausformungen in der Phantasie, der Intuition, Spekulation und Ekstase in einer immer differenzierteren Weise zu gebrauchen. Oder was dasselbe aussagt: mittels der Einbeziehung der Sinnestätigkeit in die bewusstseinsmäßige Reflexion entsprechend bestimmten teleologischen Setzungen die Inhalte dauernd zu verändern.
Gerade mit dem letzteren Unterfangen, vor der einseitig historischen Interpretation biologisch-anthropologischer Voraussetzungen zu warnen, ist aufs engste die entgegengesetzte Warnung vor dem biologistischen Missbrauch anthropologischer Einsichten verknüpft. Nicht selten werden biologisch-anthropologische Einsichten dazu benützt, um gesellschaftliche Phänomene zu erläutern. Dies ist auch bei marxistischen Theoretikern festzustellen. Das passiert ihnen zwar meist ungewollt und im Zuge einer unzureichenden erkenntnistheoretischen Begründung der Ansprüche der marxistischen Theorie. Der Rückfall in den anthropologisierenden Biologismus bildet jedoch keine geringere Gefahr für eine Theorie, die in letzter Konsequenz der Praxis dienen will, als die Leugnung der Notwendigkeit und Möglichkeit einer anthropologischen Grundlegung. Ein falsch verstandener Materialismus, nämlich ein biologistisch-mechanistischer, steht am Ende. Der naturwissenschaftliche Materialismus, scheinbar längst abgetan, hat sich nur von der Physik auf die Biologie verlagert. Marx selbst geht in der anthropologischen Bestimmung des Menschen noch weiter. Gebraucht Marx in den Grundrissen wie auch im Kapital den Begriff der „Spiels“ als Ausdruck der vielseitigen und jeglicher arbeitsteiligen Vereinseitigung entgegenstehenden „Lebenskräfte“, so tut er dies nicht nur in einem positiven Sinne, sondern in einer durchaus anthropologischen Bedeutung. Mit der Einführung des Begriffs des Spiels deutet Marx jene andere, zum Öknonomischen dialektisch vermittelte Ebene an, die der Ebene der repressiven Arbeit entgegensteht: die des Erotischen. Denn der Mensch lebt nicht von der Arbeit allein, sondern auch vom erotischen Brot (Genuss), das der Arbeit, indem sie sich in dessen Dienst stellt, erst ihren Sinn verleiht. Arbeit für sich, isoliert von den erotischen Bedürfnissen, hat gar keinen Sinn, auch die neutral als „Tätigkeit“ definierte nicht und erst recht nicht die repressive.
Die Betätigung der „geistigen und körperlichen Lebenskräfte“, wie Marx im Kapital sagt und mit dem „Spiel“ gleichsetzt, trifft den Begriff der Libido Freuds genauer als dieser selbst, denn Freud fasst ihn zu einseitig in einer auf das Sexuelle fixierten Weise. Hiermit erfährt die Marxsche Anthropologie, die der Ökonomie und dem Historischen Materialismus sachlich und logisch („formal“) vorausgeht, jene Erweiterung und Abrundung, die den eigentlichen Anlass für eine Weiterentwicklung der Anthropologie auf einer identisch marxistischen und Bewusstseinstheoretischen Grundlage bietet.
Neben dem Begriff des „Spiels“ stehen im Zentrum der Marxschen Anthropologie die Begriffe des „Gattungswesens“ und der „Selbstverwirklichung“. Beide Begriffe werden oft empiristisch-positivistisch gefasst, indem ihnen das Zusammenfallen der geäußerten Interessenlage des Proletariats mit dem Gesamtinteresse der ihm zustrebenden Gesellschaft, was auf den Begriff des „Gattungsinteresses“ hinausläuft, unterstellt wird.
Bereits in den sechziger Jahren hat Ralf Dahrendorf, ein Kritiker des Marxismus, insistiert, dass das geäußerte Interesse des Proletariats mit seinem wirklichen Interesse identisch ist. Eine solche Aussage will in Frontstellung gegen Marx besagen, dass es so etwas wie ein „Gattungsinteresse“, das sich hinter dem geäußerten Alltagsinteresse des Proletariats verbirgt, gar nicht gibt.
Sofern dieses „Gattungsinteresse“ nicht mit Hilfe einer differenzierten anthropologischen Ableitung, die auf dem Begriff des „Spiels“ basiert, definiert wird, sondern ökonomistisch und praktizistisch aus der vorhandenen Leidenslage des Proletariats deduziert wird, ist das daraus erfließende, geäußerte Interesse niemals als das „richtige“ und der „Selbstverwirklichung“ entgegengehende nachzuweisen – wozu noch kommt, dass unter dem ideologischen und konsumverführerischen Einfluss der kapitalistischen Gesellschaft tatsächlich das geäußerte Interesse dem „menschlichen“ entgegengesetzt ist. Außerhalb der dialektisch-anthropologischen Bezüglichkeit von „Spiel“, „Selbstverwirklichung“ und „Gattungsinteresse“ ist es prinzipiell durchaus möglich, Klassenantagonismus, Herrschaft, Ausbeutung, Mehrwert, Profit und vieles andere – bewusst oder unbewusst anthropologisch – als dem menschlichen Leben, ja, dem Menschen selbst angemessen auszugeben, was oft genug geschieht (zumeist in Verbindung mit der Setzung von Egoismus, Aggression und natürlicher Mangelhaftigkeit des Menschen – z.B. Gehlen – als anthropologischen Wesensmerkmalen). Warum sollen von der positivistischen oder bürgerlich-anthropologischen Warte aus besehen Klassengesellschaft und Herrschaft des Menschen über den Menschen einen geringeren Geltungswert besitzen als klassenlose Gesellschaft und Selbstverwirklichung?! Ohne eine marxistische Anthropologie kommen wir nicht weiter.
Arbeit und Freiheit
Auch das Verhältnis von Arbeit und Freiheit fasst Marx ganz nach dem Zuschnitt einer formalen Anthropologie auf. Für Marx stellt sich die Sachlage so dar, dass alle Arbeit, ungeachtet der geschichtlich möglichen „sklavischen“, d.h. unfreien Formen das Moment der Freiheit anthropologisch in sich schließt. Wir zitieren zum Beweis die Grundrisse: „Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A.Smith die Arbeit. Die ‚Ruhe‘ erscheint ihm als der adäquate Zustand, als identisch mit Freiheit und Glück. Dass das Individuum ‚in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit‘ auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe, scheint A.Smith ganz fernzuliegen. Allerdings erscheint das Maß der Arbeit selbst äußerlich gegeben durch den zu erreichenden Zweck und die Hindernisse, die zu seiner Erreichung durch die Arbeit zu überwinden. Dass aber die Überwindung von Hindernissen an sich Betätigung von Freiheit – und dass ferner die äußeren Zwecke den Schein bloß äußerer Naturnotwendigkeit abgestreift erhalten und als Zwecke, die das Individuum selber erst setzt, gesetzt werden – also Selbstverwirklichung, Vergegenständlichung des Subjekts (gemeint ist hier Entäußerung in Produkten; L.K.), daher reale Freiheit, deren Aktion eben die Arbeit, ahnt A.Smith ebensowenig. Allerdings hat er recht, dass die historischen Formen als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußere Zwangsarbeit erscheinen und ihr gegenüber die Nichtarbeit als ‚Freiheit und Glück‘.“
Der Unterschied zwischen dem anthropologisch gemeingültigen „Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit“ und den „historischen Formen als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit“, also zwischen dem formal-anthropologischen und dem historisch-inhaltlichen Begriff der Arbeit, tritt hier klar hervor. Die Arbeit ist für Marx ebenso wie für Hegel ihrem ursprünglichen anthropologischen Prinzip gemäß „bildendes, formierendes Tun“, d.h. Freiheit. Zur Unfreiheit wird sie erst in ihrer historischen Dimension.
An diesem Punkt der Rezeption des Marxschen Textes ist einer Strömung unter den Marxisten zu widersprechen, die z.B. hervorragend von Agnes Heller vertreten wird. Es wird hier – lapidar und scheinbar problemlos – den marxistischen Anthropologen unterstellt, sie würden, wohlgemerkt als Anthropologen und nicht als Soziologen oder Ökonomen, die Frage aufwerfen, „was Arbeit ist“. Tatsächlich wird diese Frage im Bereich marxistisch-anthropologischer Betrachtung gar nicht gestellt. Vielmehr wird hier die explizit anthropologische, d.h. von allen „historischen Formen als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit“ (Marx) abstrahierende Frage gestellt, was menschliche Tätigkeit überhaupt für einen logischen und faktischen Sinn gewinnt, und dies nicht für sich, sondern in Beziehung auf die Erfüllung libidinöser Bedürfnisse überhaupt; oder, um mit Marx zu reden, auf die „Selbstverwirklichung des Subjekts“ (s. obiges Zitat).
Die Antwort lautet, dass im Bereich der – gedachten oder wirklichen – Übereinstimmung von Tätigkeit („Arbeit“) und Libido eine Verhaltensform sichtbar wird, die „Spiel“ genannt werden kann; dies ungeachtet der Tatsache, dass es im konkreten historischen Raum viele Formen des Spiels gibt, die einer eigenen Untersuchung wert wären. Dieser hier so gefasste Begriff des „Spiels“ abstrahiert in anthropologischer Absicht von allen historisch gewordenen Formen des Spiels, sofern er feststellbar den verschiedenen Formen der repressiven Arbeit entgegengesetzt ist, somit eine libidinöse Aufgabe erfüllt – und dies in völliger Übereinstimmung mit Marx.
Wir haben die Frage gestellt, was menschliche Tätigkeit „überhaupt“ für einen Sinn meint. Die Beifügung des Wortes „überhaupt“ verweist auf eine nicht bloß erlaubte, sondern in der Anthropologie unerlässliche Gebräuchlichkeit. Dasselbe findet sich in der jahrhundertealten Geschichte der Philosophie, wenn hier bekanntlich vom „Bewusstsein überhaupt“ gesprochen wird. Gemeint ist damit, dass in Abstraktion von psychologischen und historischen, insgesamt inhaltlichen Bewusstseinskategorien die Frage zu beantworten ist, wie „Bewusstsein überhaupt“ sich zur „Realität überhaupt“ verhält. Vom Standpunkt des Marxismus haben Engels und Lenin eine eingehende Antwort auf diese Frage gegeben. Im übrigen kann die Antwort idealistisch oder materialistisch, sensualistisch, empiristisch oder agnostizistisch ausfallen; in jedem Falle handelt es sich um eine sinnvolle Abstraktion.
Was die Anthropologie betrifft, kann im Verlauf der weiteren Untersuchung gezeigt werden, wie das anthropologische Motiv der dialektischen Identität von Tätigkeit und Selbstverwirklichung oder Libido unter konkreten historischen Bedingungen der entfremdeten Arbeit weicht und wie die entfremdeten Formen des Libidinösen sich beim Arbeiter, Kleinbürger und Bürger in unterschiedlicher Weise durchsetzen. Das „Spiel“ in seiner originären, d.h. mit dem Menschen und seinen Bedürfnissen identischen anthropologischen Bedeutung nimmt seinerseits, aber nur in Restbeständen (besonders im Alltagsleben), eine historische Gestalt an. Es rückt an den Rand des Lebens und wird ebenso wie die Phantasie wegen der in ihnen unverwüstlichen libidinösen Ansprüche zum Sekundären und Nebensächlichen herabgesetzt, vielfach sogar, wenn der Widerspruch zu den repressiven Anforderungen der Gesellschaft zu offenbar wird, verleumdet.
Auch das Marxsche Wort von der Setzung des Menschen „als Menschen“ meint nichts anderes als einen Menschen, der im Kontext der „Selbstverwirklichung“ sich artikuliert. Marx denkt hierbei an keinen bestimmten, durch bestimmte historische und gesellschaftliche Umstände erzeugten Menschen, sondern an einen in seiner anthropologisch-humanistischen („spielenden“) Wesenheit begriffenen. Das ganze Zitat lautet: „Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen.“
Schon lange vor Marx hat Schiller, nicht ohne (was naheliegend ist) auf ihn Einfluss zu nehmen, den Menschen als „von Natur“ der Freiheit verhaftet aufgefasst, weshalb er fordern kann: „Der Mensch war Natur und muss wieder Natur werden.“ Die Aufhebung solcher Gedankengänge in den Marxismus zählt zu den hervorragendsten theoretischen Aufgaben unserer Zeit. Abseits der Anthropologie lässt sich der Hang des Menschen zur Freiheit entweder nur subjektivistisch wie z.B. bei Camus – „ich kann nur meine eigene Freiheit beweisen“ – oder metaphysisch wie bei Jaspers, der diese Bezeichnung selbst gebraucht, ableiten. Und das bedeutet: nur rückwärtsgewandt.
„Nur der Mensch produziert nach dem Maße der Schönheit“
Wenn schließlich die Identität von Mensch, Arbeit und Freiheit auf ihren radikalsten anthropologischen Ausdruck gebracht werden soll, so ist es wiederum kein anderer als Marx, der den „Entwurf“ dazu mit dem Satz geboten hat: „Nur der Mensch produziert nach dem Maße der Schönheit.“ Ähnliches trifft auf den Begriff der „Leidenschaft“ zu, den Engels gebraucht:
Es sind „die Handelnden lauter … mit Überlegung und Leidenschaft handelnde … Menschen“. Zu beidem einige Bemerkungen. Es muss verstanden werden, dass der Mensch deshalb nach dem Maße der Schönheit produziert, weil Schönheit der extremste Ausdruck des Erotischen ist. Im Bereich der durch das Bewusstsein vermittelten menschlichen Existenz ist Schönheit wiederum deshalb der extremste Ausdruck des Erotischen, weil sie der Anstrengung des Tätigseins entgegensteht, „nutzlos“ ist, d.h., das Libidinöse abrundet und vollendet, ohne unmittelbare Notwendigkeit zu besitzen. Das Schöne gehört zu den Bedürfnissen, die den Umkreis des Nützlichen verlassen, in der Zwecksetzung menschlichen Handelns unter bestimmten Bedingungen der Lebensnot als verzichtbar erscheinen. Ein durch zufälliges Vorhandensein von Papier von einem in der Wüste verirrten Wanderer rasch zusammengefalteter Trinkbecher erhebt nicht den Anspruch der angenehmen Form, der Schönheit.
Dagegen strebt der Mensch im bereits einigermaßen ausgeglichenen Alltag nach ästhetischer Gestaltung der Gebrauchsgegenstände, sei es, dass er sie selbst herstellt, sei es, dass er sie erwirbt. Selbst in den frühen Epochen der „primitiven“ Urzeit finden sich solche Gegenstände in großer Zahl vor, die wir als schön empfinden.
Der Grund für diese erotische Grundform menschlichen Verhaltens, der Schönheit, liegt in der Fähigkeit des Menschen begründet, die Produkte welcher Art immer zu reflektieren und auf ihre nicht nur „nützliche“, sondern auch erotische Dienstbarkeit hin zu prüfen und zu beurteilen. Ein geschmückter Mensch ist angenehmer als ein ungeschmückter. „Angenehm“ aber heißt so viel wie: den Bewusstseinsmäßig-erotischen Erlebnisumkreis bereichernd. Und niemand kann bestreiten, dass wir es hierbei mit einem anthropologischen Grundphänomen zu tun haben. Der Marxsche Hinweis auf das Produzieren nach dem Maße der Schönheit, wodurch sich seiner Meinung der Mensch vor allen übrigen Lebewesen auszeichnet, impliziert somit eine Aussage von radikal anthropologischer Bedeutung.
Mit alledem ist mitgedacht, dass die Bewusstseinstatsache der Schönheit im marxistischen System deshalb von größter Wichtigkeit ist, weil sie allem Mechanismus, Ökonomismus und Biologismus widerspricht, d.h. das Menschenbild auf jene Ebene der Vielseitigkeit und Fülle hebt, auf der allein die Begriffe der „Selbstverwirklichung“, des „Gattungsmäßigen“ und des „Fortschritts“ voll verstanden und für die Praxis ausgeschöpft werden können; dies sowohl für die politische Praxis wie für die Gestaltung des Alltagslebens.
Arbeit und Charakter
Ähnlich wie mit dem Begriff der Schönheit steht es mit jenem der Leidenschaft. Das teleologische, sich in aller Tätigkeit Ziele und Zwecke setzende Prinzip jeglicher Bewusstseinsaktivität drängt das praktisch oder ideologisch handelnde Individuum dahin, das Ziel, für das es sich entschieden hat, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Kräften zu realisieren. Während jedoch die Zielwahl unter dem Zwang begrenzter, sozial bestimmter kausaler Möglichkeiten, die in ihrer Gesamtheit die „Bedingungen“ ausmachen, der Willkür entzogen ist – daraus resultiert vor allem die bekannte ökonomische Gesetzmäßigkeit -‚ bleiben die Mittel, ungeachtet auch ihrer Gebundenheit an ebendieselben Möglichkeiten, mehr oder weniger variant. Letzteres deshalb, weil es neben den äußeren, an den gesellschaftlichen Umständen selbst orientierten objektiven Mitteln auch solche gibt, die ausschließlich dem Subjekt angehören (z.B. Willensstärke oder Willensschwäche, größere oder geringere Geschicklichkeit, worauf Marx hinweist usw.) und deshalb einer größeren Zufälligkeit unterworfen sind.
Zwischen den im subjektiven Bereich zur Verfügung stehenden Mitteln wie Urteilskraft, Intensität, Kritik oder Moralität endgültig und entschieden zu wählen, erfordert den Einsatz der ganzen Persönlichkeit, eine „Haltung“, die wir „Leidenschaft“ nennen. Thomas Mann bemerkt im Zauberberg: „Leidenschaft das ist: um des Lebens willen leben.“ Dieses Leben ist wiederum nichts anderes als der leidenschaftliche Wille zur Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung. „Selbstvergessenheit“ lässt Thomas Mann die kluge Frau Chauchat sagen. Meint Friedrich Engels, dass die Menschen stets mit Leidenschaft handeln, wenn sie sich ernsthaft ein Ziel vorgenommen haben, so vergessen sie sich scheinbar selbst im Dienste der Verwirklichung dieses Zieles, das jedoch zugleich ihrem „Leben“ dienstbar bleibt.
Prinzipiell ist Leidenschaft aller Tätigkeit eigen, ob der bloß „nützlichen“ oder erotischen (wozu auch Kunst und Wissenschaft gehören), zu der jene vermittelt ist. In der arbeitsteiligen Eigentumsgesellschaft trennen sich die Mittel vom Zweck (Schiller), wird die Tätigkeit zur repressiven „Arbeit“ und rationell-leidenschaftslos. Dagegen ist jegliche Mittel und Zweck identifizierende, das ist schöpferische Tätigkeit erst und im eigentlichen Sinne eine leidenschaftliche und als solche eine das Individuum bis in seine alltäglichen Bedürfnisse hinein befriedigende. Der Hinweis von Friedrich Engels auf die Leidenschaftlichkeit eines jeden Handelns verweist, des genaueren besehen, auf eine allgemeine, über die konkreten historischen Verhältnisse und ihre Deformationsformen hinweg blickende anthropologische Abstraktion. Es ist gewiss Engels und Marx bekannt gewesen, dass z.B. die Fließbandarbeit (d.h. in ihre Zeit übersetzt, extrem arbeitsteilige Arbeit) der Leidenschaft entbehrt.
Wie Schönheit, so macht somit auch die Leidenschaft einen anthropologischen Tatbestand aus, auf dessen Beachtung zu verzichten zu einer Vereinseitigung und Verarmung der marxistischen Theorie führen muss.
Um noch zum Schluss einen weiteren Punkt anzuführen: Im Lichte der marxistischen Bewusstseinsanthropologie erscheint auch verständlich die Bevorzugung des intuitivistischen Mystizismus Bachofens gegenüber dem „langweilig trockenen“, wie Marx gelegentlich sagt, Rationalismus Mac Lenans durch Engels in der Einleitung zu seinem Deutschen Bauernkrieg. Es bricht hier der Gegensatz zwischen einer, wenn bei Bachofen auch noch metaphysisch vergorenen Dialektik einerseits und einem bei Mac Lenan aus seinem Beruf als Jurist erklärbaren empiristischen Positivismus auf. Der Hinweis von Marx auf die „langweilig trockene“ Schreibweise vieler Theoretiker zielt nicht auf den bloßen äußeren Stil, nicht auf eine bloß ästhetische Formgestaltung (wie sie etwa Ranke für die Geschichtsschreibung in Erwägung gezogen hat), sondern fasst die inhaltliche Aussagekraft ins Auge, die sich in dem Gegensatz: anthropologisch-dialektisch und empiristisch-positivistisch verfängt.
Aus alledem geht hervor, dass das anthropologisch (und nicht ideologisch) begriffene Bewusstsein eine den Menschen primär definierende Qualität darstellt, wodurch sich eine Anthropologie gleichsam als Vortheorie zum Marxismus begründet. Dass wir hierbei auf die Identität von Bewusstsein und Arbeit, desweiteren von Bewusstsein, Telos, Arbeit, Vergesellschaftung, Begriff und Sprache stoßen, haben wir dargelegt. Wir haben hierbei nichts anderes getan, als streng nach der theoretischen Auffassung von Marx zu verfahren.
Erstveröffentlichung in: Ossip K.Flechtheim (Hrsg.): Marx heute. Pro und contra, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1983, S.155-170.