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» Anthropologie und Humanismus bei Kofler

Anthropologie und Humanismus bei Kofler

Eine Darstellung (2001)
von Günter Brakelmann

Für jede marxistische Gesellschaftstheorie entscheidend ist nach Kofler, wie man die Gesellschaftsauffassung des historischen Materialismus versteht. 1956 hat er im Handbuch für Soziologie darüber einen längeren Aufsatz („Die Gesellschaftsauffassung des Historischen Materialismus“; Nachdruck in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, Hamburg 2000, S.84-103) geschrieben.

Jede kritische Theorie marxistischer Struktur setzt nach Kofler einen „exakt definierten Begriff des Menschen, eine exakte Definition seines ‚eigentlichen Wesens‘ voraus. Diesen Begriff zu formulieren und eine solche Definition zu finden, ist die Aufgabe der Anthropologie.“ So beginnt das 1.Kapitel „Anthropologie und Humanismus“ in seinem Buch Der asketische Eros aus dem Jahre 1967.

Diese beiden literarischen Zeugnisse Koflers sollen hier dazu dienen, uns ihn zu vergegenwärtigen. Geschichte – Anthropologie – Humanismus, diese Trias steht zur kurzen Darstellung an. Ein Spitzensatz am Anfang: „Geschichte erscheint hier als Selbstverwirklichung des Menschen auf dem Wege der Verwirklichung immer höherer Stufen der Freiheit. Damit hat Hegel den historischen Fortschrittsbegriff begründet, den Marx übernommen hat.“

Es dürfte Kofler kennzeichnen, dass er immer wieder darauf hinweist, dass Marx seine Geschichtsauffassung vorrangig gewinnt durch die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft unter den Bedingungen der kapitalistischen Eigentums- und Klassenverhältnisse. Das konstitutive Prinzip dieser Gesellschaft ist, wie er sagt, die „formelle Gleichheit und Freiheit“, die allerdings unter den gesellschaftlichen Bedingungen kapitalistischer Wirtschaftspraxis unter die Bedingungen der Entfremdung geraten. Er schreibt: „Entfremdung ist hier zu verstehen als das Beisammensein von Komplizierung, Undurchschaubarkeit, Verselbständigung gegenüber dem individuellen Tun, Unbeherrschbarkeit und Feindlichkeit, womit das eigene gesellschaftliche Produkt des Menschen, nämlich der gesellschaftliche Prozess, dem Menschen als etwas Fremdes, als selbsttätige Macht, gegenübertritt.“

Diesen Zusammenhang der gleichzeitigen Anwesenheit des formalen Prinzips von individueller Freiheit und des realen Lebens in vielfachen Formen von Entfremdung kritisch entfaltet zu haben, ist, wie Kofler sagt, die „Geburtsstätte der dialektischen Sozialtheorie“. Was Kofler damit meint: die bürgerlich-kapitalistische Phase ist durch einen fundamentalen dialektischen Widerspruch charakterisiert: sie hat den historisch möglichen Fortschritt der Freiheit heraus gearbeitet und produziert gleichzeitig Inhumanität in Strukturen und im Denken. Diese Gesellschaft, die sich gebildet hat, ist „ununterbrochene Bewegung, Selbsterzeugung in immer neuer Gestalt“.

Die Frage ist, welches Prinzip diesen Prozess, der die Gegensätze zur Einheit der Gesellschaft möglich macht, erzeugt. Die Antwort: „Dieses Prinzip erkennt der historische Materialismus in der Tatsache der Arbeit. Die umfassende Bestimmung der Arbeit, ihrer Bewusstseinsbestimmtheit, des Umschlagens ihres Subjektcharakters in Objektcharakter, ihrer sozialen Funktionalität usw., zieht sich durch das ganze Werk von Marx. Der Sachverhalt liegt so, dass der Mensch in und durch die Arbeit nicht nur Dinge zur profanen Bedürfnisbefriedigung, sondern auf dem Umwege über diese profane Tätigkeit sich selbst als Mensch erzeugt, dies aber nicht ’schlechthin‘, sondern als gesellschaftliches Wesen. Mit anderen Worten, die Arbeit ist es, die das erzeugt, was wir ‚Gesellschaft‘ nennen. Marx grenzt sich mit dieser Auffassung deutlich gegen die flach materialistischen Ansichten ab, die die Gesellschaft aus der Familie, also biologistisch erklären – wobei die historische Anknüpfung an die Familie nicht geleugnet zu werden braucht – oder aus den geographisch-klimatischen Bedingungen. Das erstaunliche Werk der Arbeit, ununterbrochen Gesellschaftlichkeit zu produzieren, beruht auf der Tatsache, dass die Arbeit als solche nur sein kann, wenn sie sich eines Mittels bedient, das dem Tier fremd ist, des Bewusstseins. Nur der arbeitende Mensch hat bewusstes Sein, und nur der mit Bewusstsein begabte Mensch arbeitet. Arbeit heißt also nicht bloß Muskeln und Schweißdrüsen in Tätigkeit setzen zu einem bestimmten Zweck, sondern mit Bewusstsein tätig sein. Der moderne Marxsche Materialismus lehnt die Vorstellung einer ‚tierischen Arbeit‘ strikt ab, weil ihm Arbeit unaufhebbar an Bewusstsein geknüpft ist.“

Weiter: Durch das bewusste Tun gerät der Mensch in ein „Verhältnis zum Mitmenschen“. Er ist zugleich produzierendes wie konsumierendes Wesen. Als produzierender setzt er sich mit der Natur auseinander. Selbst ein Naturwesen, tritt der Mensch – begabt mit Bewusstsein – der Natur als selbständige Macht gegenüber und bearbeitet sie für seine Zwecke. Es ist der Mensch als gesellschaftliches Wesen, der „ausnahmslos alles, was im geschichtlichen Raume den Menschen betrifft, als ‚Erzeugnis‘ des Menschen selbst begreift. ‚Die Theorie (…) demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist, die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.‘ Diesen Satz nimmt Marx mit aller Konsequenz ernst. Nirgends verwickelt sich Marx in den Widerspruch, ‚hinter‘ der Sphäre des menschlich-gesellschaftlichen Seins etwas zu suchen, was den Menschen von daher bestimmt. Nach Marx ist der Mensch ein ‚tätig-leidendes Wesen‘ in dem Sinne, dass er einerseits nur solchen Bindungen unterworfen sein kann, die er selbst ‚macht‘, andererseits aber die ‚bestimmenden‘ Erscheinungen niemals gegenständlicher Natur sind, sondern immer nur gesellschaftliche. Aber für Marx stehen die dinglichen Erzeugnisse des Menschen nicht als schlechterdings ’solche‘ neben den gesellschaftlichen, sondern es gibt der Wahrheit nach nur gesellschaftliche Erzeugnisse des Menschen.“

Der Argumentationsgang geht weiter. In der ständigen Selbsterzeugung des Menschen in der Arbeit, die die gesellschaftlichen Grundlagen ständig verändert, „enthüllen sich Mensch und Gesellschaft als einer fortwährenden Veränderung unterworfen, oder, was dasselbe bedeutet, als durch und durch historische Phänomene. Für die Auffassung des historischen Materialismus gibt es ebensowenig ‚den Menschen‘ schlechthin oder ein unveränderliches ‚Wesen‘ des Menschen, wie es eine überhistorische ‚Gesellschaftlichkeit schlechthin‘ geben kann. Menschlich existieren heißt hier wesentlich im konkreten und veränderlichen Verhältnis zum Mitmenschen im konkreten gesellschaftlichen Raume, und das heißt wiederum als geschichtlich tätiges Wesen, ausgestattet mit einer veränderlichen Vorstellungs- und Denkweise existieren. Was der Mensch in dieser Hinsicht geschichtlich ist, das ist er wirklich, das macht seine eigentliche Existenz aus. Hier ist zu beachten, dass der historische Materialismus nicht allgemeine, für alle menschliche Existenz geltende Merkmale leugnet. Aber sie gewinnen hier die Geltung bloß formaler Bestimmungen, d.h. solcher, die die allgemeinen Voraussetzungen menschlichen Seins überhaupt ausdrücken und deshalb nicht unmittelbar bestimmend in die sachlichen Voraussetzungen eingehen. Man kann das auch so ausdrücken: die formalen Voraussetzungen ermöglichen menschliche Existenz, ohne in ihre Eigentlichkeit einzugehen oder mit ihr zusammenzufallen. Zu den formalen Voraussetzungen gehören: 1. Dass der Mensch ein Naturwesen ist, in der Natur lebt und sich mit ihr ständig auseinandersetzen muss. 2. Die körperliche Organisation des Menschen. 3. Die seelische Struktur des Menschen, wohl zu unterscheiden von den umweltbedingten Inhalten des seelischen Prozesses. 4. Die grundsätzliche Vernunftbegabtheit des Menschen, die ein natürliches Entwicklungsprodukt darstellt und als Naturtatsache zu werten ist. Unter diesen allgemeinen, formellen Voraussetzungen entfaltet sich konkrete menschliche Geschichte, d.h. konkretes menschliches Sein in seiner Bewegung, die allein menschliches Sein ausdrückt.“

Dieses Sein nun befindet sich in einem ununterbrochenen Veränderungsprozess. Dieser Prozess basiert auf anthropologischen Voraussetzungen, die Kofler in sechs Punkten zusammenfasst: „1. Der Mensch ist ein arbeitendes Wesen. 2. Der Mensch ist in einer durch die Tatsache der Arbeit bestimmten Weise ein auf den Mitmenschen notwendig bezogenes, also soziales (vergesellschaftetes) Wesen. 3. Der Mensch ist ein gleichzeitig ichbezogenes (individuelles) und sozialbezogens (vergesellschaftetes) Wesen. Er ist ein widerspruchsvolles Wesen. 4. Die Arbeit und in weiterem Sinne alle Tätigkeit des Menschen äußert sich in gegenständlichen oder geistigen Erzeugnissen; der Mensch ‚entäußert‘ sich in ihnen kraft seiner Fähigkeit zu arbeiten. 5. Im Zusammenhang mit der Tatsache der ‚Entäußerung‘ in der Arbeit ergibt der Widerspruch zwischen der Ich- und der Sozialbezogenheit der Menschen das dialektische Vermögen, im konkreten historischen Raume in Übereinstimmung miteinander oder im Gegensatz zueinander zu treten, was die ‚anthropologische‘ Voraussetzung für die grundsätzliche Möglichkeit der historischen Herausbildung antagonistischer (klassengespaltener) oder harmonistischer Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens bildet. Aber nur unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen wird aus dieser Möglichkeit konkrete Wirklichkeit in den diesen Bedingungen entsprechenden vielfältigen Formen. [Man achte hier auf den Unterschied zwischen Voraussetzung und Bedingung!; GB] 6. Der Mensch verwirklicht sich nur im geschichtlich-gesellschaftlichen Raume, so dass seine bisher aufgezählten wichtigsten ‚anthropologischen‘ Merkmale, obgleich sie die unaufhebbare Voraussetzung aller menschlichen Existenz bilden, ihrerseits ständig im geschichtlichen Prozess hervorgebracht werden müssen. Eine ‚reine‘ anthropologische Existenz des Menschen unabhängig von seinem geschichtlichen Sein ist daher für den dialektischen Begriff eine nicht durchführbare Vorstellung.“

Kofler weist auf einen Zusammenhang hin, der häufig bei Marx übersehen wird: es geht nicht nur um die wirtschaftliche Lage des Arbeiters, sondern es geht um die „Befreiung des ganzen Menschen“. Er muss vom ökonomischen Mangel wie vom geistig-kulturellen „Pauperismus“ befreit werden. In der Produktionssphäre geht es z.B. um die Überwindung der verheerenden Wirkung der Arbeitsteilung: „Die verheerende Wirkung der Arbeitsteilung soll durch die Verkürzung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit gemildert und der ‚Pauperismus‘ durch die erzieherische und kulturelle Ausgestaltung der verlängerten Freizeit überwunden werden. Aus der gesellschaftlich entstehenden Tendenz zur Lösung der Widersprüche der kapitalistischen Ordnung erwächst auf der vom Kapitalismus selbst geschaffenen günstigen ökonomischen Grundlage der Drang zum Sozialismus. Der Sozialismus ist somit die fünfte der bisher erkennbaren Hauptepochen der Menschheit. Weil der Mensch nach Marx wegen seiner bisherigen wesentlich ökonomischen (materiellen) Bestimmtheit halb Tier, halb Mensch war, ist die bisherige Geschichte als bloße ‚Vorgeschichte‘ der Menschheit zu betrachten. Mit der klassenlosen Gesellschaft beginnt ‚die eigentliche Geschichte‘, in welcher die Gesellschaft Herr ihrer ‚Gesetze‘ wird und der Mensch sich in voller Freiheit entfaltet. Klassenlos ist diese Gesellschaft nicht, weil alle in ihr ungefähr ‚gleich leben‘ – eine solche aus der kapitalistischen Denkweise Marx unterlegte Vorstellung ist ihm fremd – sondern weil der Mensch nicht mehr zum Mittel des Menschen werden kann (…). Die Geschichte als die fortschreitende Selbstverwirklichung der menschlichen Freiheit zu betrachten, liegt nicht ohne weiteres auf der Hand. Das äußere Bild der Geschichte bestätigt eher das Gegenteil. Aber diese Bestätigung ist Schein, wenn auch die meisten historischen Subjekte ihm unterliegen und ihn für das Wesen nehmen. Sie begreifen nicht, dass selbst die negativen, tragischen, düsteren Momente im geschichtlichen Prozess, die subjektiven und objektiven Irrtümer, Zusammenbrüche und Rückfälle in vielen Fällen unvermeidliche, aus der konkreten Widersprüchlichkeit geborene Durchgangsmomente der Fortentwicklung der Geschichte zu einem Neuen, Höheren darstellen.“

Im Klartext: Kofler ist mit Marx der Zuversicht, dass sich die Geschichte auf dem Wege zu immer höheren Stufen der Freiheit entwickelt, natürlich durch widersprüchliche Prozesse hindurch. Er sieht beim Menschen die formalen anthropologischen Voraussetzungen gegeben, durch bewusste zielgerichtete Tätigkeit die Geschichte so zu machen (‚Geschichte wird vom Menschen gemacht‘), dass das Reich freiheitlicher Selbstverwirklichung sich ereignen kann. Das ist allerdings bei ihm kein fröhlicher, harmonischer Prozess, sondern er geht durch Entfremdung und Leid hindurch, die nur durch die Praxis eines realen Humanismus überwunden werden können. Die Geschichte beschert nicht einen automatischen Endsieg, sondern ist als Leidensgeschichte zugleich Befreiungsgeschichte, wenn der Mensch als arbeitender und handelnder seine Menschwerdung bewusst in seine Verantwortung nimmt.

Bei der möglichen Entwicklung der Menschheit zu immer höheren Stufen der Freiheit spielt nun das Denken, das Bewusstsein in allen seinen Gestalten, eine entscheidende Rolle. Dieses wird aber nicht von den geschichtlichen Prozessen, von der Wirklichkeit des Seins abgetrennt, sondern das Denken wird „als Element der Tat, als Faktum im Prozess des Selbstmachens der Geschichte durch den Menschen“ begriffen: „Diese Machen der Geschichte durch das Denken besteht aber nicht darin, dass es von außen her auf die Geschichte ‚einwirkt‘, sondern es stellt selbst eine unaufhebbare Bedingung geschichtlichen Seins überhaupt dar. Das Denken verhält sich nicht bloß ‚teilnehmend‘, sondern Geschichte überhaupt ermöglichend. D.h. es ist ein so entscheidendes Moment des geschichtlichen Prozesses, das dieser ohne Denken nicht möglich ist.“

Um die strukturelle und inhaltliche Andersartigkeit seines eigenen anthropologischen Ansatzes zu verdeutlichen, setzt Kofler sich mit Freud auseinander. Dieser fasst für ihn den „Menschen als ein von Natur unmoralisch-anarchisches Triebwesen auf“. Seine Theorie des „Destruktions- und Todestriebes“ erklärt Kofler als „negativen Trieb“, „aus dem grundsätzlich pessimistischen Menschenbild Freuds, das auch erklärt, weshalb er den Begriff des Eros so sehr einschränkte, dass nur noch das Libidinöse in der engen Bedeutung des Erotischen und Sexuellen übrigblieb. Auch hier lässt sich ein Vergleich zu Marx ziehen. Marx spricht einmal davon, dass der künftige Mensch einer freien Gesellschaft seinen Tag in tätiger Muße verbringen werde, und er schildert einen solchen Tag sporadisch, indem er das Fischen morgens, Kritisieren mittags und Musizieren abends erwähnt. Hier wird unter Eros offenbar der allgemeine Weltbezug verstanden, die freie und repressionslose Offenheit zu allem Lustvollen, dem das Schöne, Erhabene, Bedeutende und beglückend Unbedeutende in allen seinen grenzenlos vielfältigen Formen zugehört.“ „Freie und repressionsfreie Offenheit zu allem Lustvollen“ – das ist Eros.

Wie ist nun die „Frage nach dem eigentlichen Wesen des Menschen“ auf der Grundlage einer „notwendigerweise anthropologisch verfahrenden kritischen Gesellschaftswissenschaft“ zu beantworten? Zunächst gilt noch einmal: „Das anthropologisch zu bestimmende eigentliche Wesen des Menschen fällt aber nicht zusammen mit dem Menschen, den es nicht gibt. Denn wenn überhaupt von etwas Gleichbleibendem im Menschen die Rede sein kann, dann ist es seine Veränderlichkeit im historischen Raum. Diese Einsicht ergibt sich zwangsläufig aus der historisch und soziologisch belegbaren Erfahrung, dass der Mensch als Mensch, das heißt in seiner spezifischen menschlichen Individualität das ist, was er denkt, fühlt, weiß, erkennt und erfährt, kurz was er mittels seines historisch geprägten Bewusstseins geworden ist.“

Wenn auch deshalb keine für alle Zeiten und Epochen geltende Anthropologie zu entwerfen ist, so gibt es doch „anthropologisch definierbare formale Voraussetzungen menschlicher Existenz“. Es gilt: „Ist die Vorstellung eines sich gleichsam hinter der äußeren Fassade verbergenden unveränderlichen Menschen abzulehnen, so schließt dies nicht aus die Annahme einer anthropologisch definierbaren formalen Voraussetzung menschlicher Existenz. Sie bleibt formal, weil sie von sich aus keinen Einfluss auf die konkrete Entwicklung nimmt, und sie ist eine bloße Voraussetzung, weil sie nicht in die konkreten Bedingungen dieser Entwicklung eingeht.“

Immer wieder entfaltet Kofler diesen seinen Ansatz. Dies zeigt, wie fundamental er für ihn gewesen ist. In Auseinandersetzung mit anderen Denkern wie Michael Landmann, Erich Rothacker, Arnold Gehlen, Max Scheler und anderen definiert er wiederholend und zusammenfassend: „Wir erkennen in der Anthropologie zunächst in allgemeinster Weise jene Wissenschaft, die ihr Augenmerk auf die Totalität menschlichen Seins in ihren primären, die umfassende Totalität der gesamten menschlichen Existenz formal ‚ermöglichenden‘ Grundlagen richtet. Da wir es bei der Hervorkehrung der unveränderlichen gegen die veränderliche Seite der menschlichen Existenz und umgekehrt stets mit einer Abstraktion zu tun haben, muss im Sinne des Begreifens der Totalität des Menschen ein Weg gefunden werden, der beiden Seiten und ohne ihre spezifische Besonderheit zu verfälschen gerecht wird. In Vorwegnahme des zu Begründenden definieren wir nunmehr die Anthropologie folgendermaßen: sie ist die Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit.“

Veränderungen sind möglich, weil der Mensch im Gegensatz zum Tier Bewusstsein hat. „In anthropologischer Sicht besteht das Bewusstsein des genaueren in der Fähigkeit, Handeln in einem Ziele setzenden Sinne zu ermöglichen. Nur der Mensch kann sich kraft der Tatsache des Bewusstseins Vorausziele setzen und zwischen ihnen im voraus wählen. Ein durch das Bewusstsein hindurch vollzogenes Handeln ist aber eine Funktion der Veränderung in einem historischen Sinne. Die Begabtheit mit Bewusstsein selbst stellt eine (in überschaubaren Zeiträumen) nicht veränderliche Gegebenheit dar; jedoch ist gleichzeitig gerade sie es, die alle Veränderung im Leben des Menschen ermöglicht.“

Also: Unter den naturbedingten Voraussetzungen entfaltet sich „konkrete menschliche Geschichte, die das eigentliche menschliche Sein in seiner Totalität ausmacht“. Die Conclusio: „Wie die Anthropologie sich mit den unveränderlichen Voraussetzungen beschäftigt, so ist das eigentliche oder geschichtliche Sein des Menschen das Objekt der Geschichtstheorie oder der Geschichtsauffassung.“

Worum geht es in der Geschichtsauffassung? „Jeder echten Geschichtsauffassung geht es wesentlich um das Begreifen der widerspruchsvollen Vielfalt des Geschichtlichen als eines zur Einheit sich prägenden Prozesses. In allen seinen Gestalten ist geschichtliches Sein ganzheitliches, weil alle seine Momente in seinen Prozess hineinziehendes und zur Einheit knüpfendes Sein. Diese Einheit besteht in der unaufhebbaren Abhängigkeit der Momente voneinander und in ihrer gegenseitigen Bestimmtheit durcheinander im einheitlichen Prozess. Der Prozess wird zum Prozess infolge der steten Veränderungen der Umstände oder Bedingungen, die ihrerseits die Folge menschlichen Tuns sind.“ Und was formt und trägt den Prozess? „Das Bewusstsein ist es, das das erstaunliche Werk der menschlichen Tätigkeit, ununterbrochen Gesellschaftlichkeit zu produzieren, ermöglicht. Daher ist die tierische Gattung instinktmäßig-biologisch, die menschliche Gesellschaft Bewusstseinsmäßig-tätig bestimmt; daher kennt die tierische Gattung nur Entwicklung, der Mensch dagegen Geschichte.“

Es ist also seine Geschichte, die der Mensch als ein mit Bewusstsein begabtes und daher tätiges Wesen macht. Er bringt seine Lebensumstände selbst hervor, indem er sie dauernd ändert. Der Mensch macht also immer seine Geschichte.

Nach Kofler nun erhält im System des anthropologischen Aufbaus das Erotische einen besonderen Platz. Ist das Bewusstsein aus dem Tätigsein abgeleitet und durch seine Zielgerichtetheit und Rationalität definiert, so leitet sich das Erotische aus derselben Bewusstseinstätigkeit ab, definiert sich aber durch seine Irrationalität. „Sein Wesen ist nicht das verändernde Tun, sondern das aufnehmende Genießen (…) Erst der dialektische Zusammenhang von tätiger und erotischer Existenz definiert den ganzen Menschen in anthropologischer Absicht.“ Der Mensch strebt in seinem Handeln immer gleichzeitig nach „glückhafter Befriedigung des Eros.“ Deshalb gilt: „Leben steht in allen seinen Formen im Dienste des Erotischen, um mit ihm identisch zu werden. Eine solche Identität bleibt Zweck, das Handeln Mittel hierzu.“ Im Geschichtsprozess formt sich die „dialektische Einheit von Tätigkeit – Apollinischem und Genuss – Dionysischem – oder den ’spielenden‘, d.h. im schöpferischen Tun erotisch genießenden und im Genuss sich tätig verwirklichenden Menschen.“

Und der Unterschied zwischen dem Jetzt und Morgen? „Das entscheidende Merkmal des Gegensatzes zwischen den repressiv-antagonistischen und den harmonischen Gesellschaftsformationen (welche letztere nicht problemlos zu sein brauchen) ist die Unterdrückung oder die Verwirklichung der erotischen Bedürfnisse. In der antagonistischen Ordnung wird die Tätigkeit zur repressiven Arbeit, in der harmonischen zum ‚Spiel‘.“

Und wann wird das sein? „Im Lichte der anthropologischen Fragestellung besehen, genügt der vorläufige Hinweis, dass die tätig-apollinische und die erotisch-dionysische Tendenz nur da zu ihrer eigentlichen und ursprünglichen Bedeutung zurückfinden, wo sie sich in dialektischer Identität gegenseitig bestimmen, wo das Apollinische seine schöpferischen Impulse durch das Dionysische und dieses seine innere Ordnung und sein Maß durch jenes empfängt. Nur da verwirklicht sich der ’spielende‘ Mensch. Allein als ’spielender‘ ist er ein freier und ’sich verwirklichender‘. Obgleich sich der Mensch einerseits durch die Gesamtheit der bisher gewonnenen Bestimmungen anthropologisch definieren lässt, führen eben diese Bestimmungen andererseits zu dem Ergebnis, dass der Mensch sich als ein in der dialektischen Identität von Tätigkeit und Eros, Apollinischem und Dionysischem stehender definiert, oder, was dasselbe ist, als ein ’spielender‘. Das Ergebnis ist deshalb ein humanistisches.“

Realer Humanismus wird also dort sein, wo die Einheit von Tätigsein und Eros Wirklichkeit wird. Dies ist, wie er selbst sagt, „ein optimistischer Ausblick auf das, was aus dem Menschen werden kann und wonach er seiner Natur nach strebt.“ Aber: „Diese anthropologisch definierte Perspektive hat allerdings von sich aus keinerlei Einfluss auf das konkrete historische Geschehen, denn sie ist als eine anthropologische formaler Natur. Was aus der eingesehenen Möglichkeit des ’spielenden‘ Menschen wirklich wird, das hängt von den historischen Umständen und der Realisierung der diesen Umständen innewohnenden Möglichkeiten ab. Doch bleibt es nicht ohne Bedeutung für die praktischen Auswirkungen der kritischen Theorie, welches anthropologische ‚Menschenbild‘ sie vertritt. Die Analyse der praktischen und ideologischen Schwierigkeiten, Widersprüche und Widerstände kann die humanistische Perspektive, die sich aus der Begegnung von anthropologischer Theorie und historischer Entwicklung ergibt, nur in praktisch-historischen Belangen variieren, aber nicht aufheben.“

Auch die Zwischenzeiten mit ihren negativen Erscheinungen der Unterdrückung und Entfremdung können geschichtlich-langfristig hinter die positive Bestimmung des Menschen nicht zurück: „Das Ergebnis ist ein humanistisches, weil es trotz aller bereits (…) noch aufzuweisenden Widersprüchlichkeit des menschlichen Lebens einen optimistischen Ausblick auf das, was aus dem Menschen werden kann und wonach er seiner Natur nach strebt, erlaubt.“

Mit anderen Worten: Kofler hat im Gegensatz zu den meisten Denkern seiner Zeit, die er Nihilisten genannt hat, im Bewusstsein des Menschen die Voraussetzung gesehen, die von ihm selbst gemachte Entfremdungs- und Unterdrückungsgeschichte in eine vom selben Menschen zu gestaltende Befreiungsgeschichte zu transformieren. Seine anthropologische Sichtweise erlaubte ihm in den historischen Prozessen die humanistische Perspektive.

Erschienen in Christoph Jünke (Hrsg.): Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20.Jahrhundert, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2001, S.96-104.