Die Diktatur des bürgerlichen Geistes im kapitalistischen Staat [1957]
In den Frühschriften weist Marx auf die bedeutende Rolle hin, die der bürgerlichen Gedankenwelt im Gefüge der modernen Klassengesellschaft zukommt. Einerseits stellt das bürgerliche Denken eine wirkliche Kraft, ein unentbehrliches und nach allen Richtungen wirkendes Mittel der Aufrechterhaltung der Herrschaft der kapitalistischen Klasse dar. Es entsteht so leicht der Schein, als ob die gesellschaftlichen Verhältnisse und Differenzierungen ausschließlich durch geistige Faktoren veranlasst wären. Aber andererseits bleibt dieser Schein eben bloßer Schein, denn hinter ihm stehen die wirklichen, ökonomischen und sozialen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse, deren Verschwinden die alleinige Voraussetzung für das Verschwinden dieses die ganze Gesellschaft beherrschenden Scheins bildet. Marx bemerkt hierzu:
„Dieser ganze Schein, als ob die Herrschaft einer bestimmten Klasse nur die Herrschaft gewisser Gedanken sei, hört natürlich von selbst auf, sobald die Herrschaft von Klassen überhaupt aufhört.“
Immerhin stellt dieser Schein, dass die Klassenherrschaft wesentlich eine solche des Gedankens – noch dazu des erhabenen – sei, ein ernstes Problem dar, denn seine Herrschaft über die Köpfe erlaubt es, dem kapitalistischen Staate die Glorie umzuhängen, auf den Zwang zu verzichten und rein mit den Mitteln des Geistes die Gesellschaft zusammenzuhalten; woran, wie noch zu zeigen, durchaus ein Körnchen Wahres ist, wenn auch diese Wahrheit, richtig verstanden und enthüllt, die Glorie zerreißt und den nackten Egoismus der Herrschenden erkennen lässt. Zunächst mögen uns einige Äußerungen von Marx mit seiner Vorstellung über die Rolle vertraut machen, die er dem Faktor des Geistes im Prozess der Festigung der Herrschaft der einen Klasse über eine andere zuspricht:
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“
An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Marx trotz dieser Gleichheit aller Epochen einen wesentlichen Unterschied zwischen dem mittelalterlich-feudalen und dem bürgerlich emanzipierten Staat deutlich macht. Während der feudale Staat, um als Staat die ihm gestellten Aufgaben erfüllen zu können, sich stets des offenen Zwanges bedienen muss, tritt unter den Bedingungen der bürgerlichen Emanzipation der Zwang seinen Vorrang zugunsten der deklarierten Freiheit und Gleichheit und damit zugunsten des Geistes ab. Das heißt, indem der bürgerliche Staat, wie Marx in der Judenfrage zeigt, die Sphäre der egoistischen Interessen sich selbst überlässt und somit die schwachen Klassen den besitzenden Klassen ausliefert, bedarf er, um als Klassenstaat seine „himmlische“, scheinbar nur der Gleichheit und der Freiheit dienende Funktion unter Beweis stellen zu können, des Geistes, der unter dem Schein dieser Gleichheit und Freiheit die tatsächliche Ungleichheit und Unfreiheit verschwinden macht. Der Zwang verschwindet nicht, aber er tritt vornehm in den Hintergrund, mit einer Verbeugung vor dem Geist, der es unter den undurchsichtig und für das blinde Bewusstsein mythisch gewordenen Verhältnissen besser versteht als der Zwang, die Individuen zur Räson zu bringen; der Zwang bleibt in Reserve, nämlich „für alle Fälle“, die allerdings nicht ausbleiben.
Dass der bürgerliche Geist eine solche Macht hat, hat seinen guten Grund nicht nur in der erwähnten Undurchsichtigkeit des kapitalistischen Prozesses, sondern auch in der von Marx scharf herausgearbeiteten Tatsache der formalen Emanzipation selbst, die, ohne die Klassenverhältnisse anzutasten, dem Individuum formelle Gleichheit und Freiheit und darüber hinaus sogar (schwer abgerungen!) gewisse politische Rechte gewährt. Besonders für den bürgerlichen Staat trifft daher zu, was Marx über die Rolle des Denkens, des Geistes der herrschenden Klasse sagt:
„Die Klasse, die die Mittel zu ihrer materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert somit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so dass ihr zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse … insofern sie (die Individuen der herrschenden Klassen) … unter anderem auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln, (sind) also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche.“
Unter der Bedingung des bürgerlichen Individualismus und Formalismus, seiner „Gleichheit und Freiheit“, kann der Geist, der von sich behauptet, nichts als ein Geist dieser Gleichheit und Freiheit zu sein und hierin vom realen Schein der Existenz einer solchen Gleichheit und Freiheit unterstützt wird, zu einem ganz anderen Machtmittel der Herrschenden, die seine „Produktion und Distribution regeln“, werden, als in einer Zeit, da die „ständische“ Differenzierung der Menschen sich offen auf den Standpunkt ihrer Unterschiedlichkeit stellt und ebenso offen den Zwang gebraucht, um die Unterschiede als „gottgewollte“ deutlich zu machen. Die Rolle des Geistes ist also unter modernen Verhältnissen eine andere geworden. Es ist notwendig, diese Tatsache näher zu beleuchten.
Ein spezieller Grund für die Verdecktheit des Wesens des bürgerlichen Staates ist neben verschiedenen anderen Gründen darin zu suchen, dass die herrschende kapitalistische Klasse nicht als ganze und nicht unmittelbar den Staat als Werkzeug der Klassenherrschaft in Händen hält, sondern indirekt, d.h. mit Hilfe der dazu berufenen Kräfte. Es kann daher vorkommen, dass der Staat sogar in einen gewissen Gegensatz zur bürgerlichen Klasse gerät, und das ist historisch stets dann der Fall, wenn die egoistischen Interessen des einzelnen Bourgeois sich so versteift haben, dass er nicht bereit ist, sich unter allen Umständen dein Gesamtinteresse der Bourgeoisklasse unterzuordnen, d.h., wenn diese Klasse infolge gewisser historischer Verwicklungen ihre wahren Interessen nicht erkennt und diese vom Staat gegen ihren Willen wahrgenommen werden müssen. In der Vergangenheit haben wir ein Beispiel für eine solche Diskrepanz zwischen der herrschenden Klasse und dem sie gesellschaftlich und historisch vertretenden Staat in dem Kampfe des reaktionären Absolutismus des 17.Jahrhunderts gegen die auf ihre „Freiheiten“ bedachten großen Adeligen (besonders Frankreichs), die nicht erkannten, dass die Unterordnung unter den staatlichen Zentralismus ihre Rettung oder zumindest die Verzögerung ihres Untergangs bedeutete.
Spricht man schlechthin und in allgemeiner Weise von dem die Interessen der Herrschenden vertretenden und ihre Klassenherrschaft sichernden Staat, dann erscheint er in doppeltem Sinne als eine Abstraktion.
Einmal in dem sehr weiten Sinne, als er den strukturellen Bau der Gesellschaft, der sich durch die Gesamtheit der Klassenverhältnisse bestimmt, ihren Zusammenhalt, ihre „Ordnung“, kurz die konkrete Erscheinungsweise der ganzen Gesellschaft nicht nur widerspiegelt, sondern diesen Bau gerade selbst darstellt, d.h. mit ihm zusammenfällt. Wenn es wahr ist, dass jede Klassengesellschaft sich durch ganz bestimmte und nicht ohne weiteres veränderbare Verhältnisse, durch bestimmte Abhängigkeiten der Klassen untereinander auszeichnet, dann stellt der Staat mehr als ein bloßes „Instrument“ dieser Gesellschaft dar, er ist geradezu ihre Organisation, oder theoretisch ausgedrückt, ihre Form. Er fällt daher mit der Gesellschaft zusammen, er ist mit ihr identisch, wie Form und Inhalt einer Erscheinung stets identisch sind, d.h. nur zwei Seiten ein und derselben Sache ausmachen. Insofern hatte Max Adler, ein sonst zweifellos mit manchen Denkfehlern behafteter Marxist, nicht so ganz unrecht, als er in seiner Schrift Die Staatsauffassung des Marxismus eine soziologische Identität von Gesellschaft und Staat behauptete. Allerdings hätte er hinzufügen müssen, dass es sich bei dieser Bestimmung gleichzeitig um eine Abstraktion, gewonnen aus einer allzu großen Verallgemeinerung der Beziehung von Staat und Gesellschaft, wenn auch um eine sinnvolle, weil das Problem erhellende Abstraktion handelt.
Aber auch wenn man dazu übergeht, den Staat in dem engeren Sinne als das bloße Instrument in der Hand der herrschenden Klassen anzusehen, tritt uns in dem so gewonnenen Begriff der Staat gleichfalls als eine Abstraktion entgegen. Denn in dieser, durch die strenge Scheidung von Staat und Gesellschaft gewonnenen Bestimmung erscheint er zwar als ein Herrschaftsinstrument einzelner Klassen, aber diese Bestimmung verleitet zu leicht dazu, ihn einseitig mit der herrschenden Klasse vollkommen zu identifizieren, d.h. die wahre Kompliziertheit des Verhältnisses des Staates zur Herrschaftsfunktion dieser Klasse zu übersehen.
Gewiss übt die bürgerliche Klasse, indem die überwiegende Zahl ihrer Mitglieder durch ihre moralische und materielle Unterstützung der öffentlichen und das heißt der staatlichen Institute für ihr „zuverlässiges“ Funktionieren sorgen, ihren Einfluss auch direkt aus. Aber dieser Einfluss, möge er noch so groß sein, ist nicht entscheidend, oder genauer, er wird erst entscheidend unter der Bedingung des Vorhandenseins von Faktoren, die in ihrem Zusammenwirken die komplizierte Mechanik dessen ausmachen, was sich als der bürgerliche Staat im instrumentalen Sinne darbietet. Ohne diese Faktoren würde die kapitalistische „Ordnung“ nicht jene Festigkeit aufweisen, die wir täglich zu bewundern und zu spüren Gelegenheit bekommen.
Die wichtigsten dieser Faktoren sind die folgenden drei. Der erste Faktor, in seiner Wirkung noch wenig erkannt und beschrieben, ist die bürgerliche Elite. Sie stellt gleichsam das Verbindungsglied zwischen der herrschenden Klasse und dem Staat dar und umfasst den bewusstesten, geschultesten und reifsten Teil des Bürgertums. Je nach der historischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in deren Aufstiegs- oder Niedergangsepoche zeigt sie eine entsprechend verschiedene Verhaltensweise. Aber eines bleibt sich stets gleich, nämlich ihr, wenn auch vor den Augen der Außenwelt verborgener gewaltiger Einfluss, der sich nicht so sehr materieller als geistiger und moralischer Mittel bedient (was allerdings eine materielle Vorzugsstellung und materiellen Einfluss voraussetzt). Die Kraft ihres geistigen Einflusses schöpft sie aus ihrem Kulturträgertum. Denn sie stellt die eigentliche kulturtragende Schicht der Gesellschaft dar und sorgt dafür, dass die inhaltlichen Elemente ihrer Kulturauffassung, d.h. ihrer Auffassung von Welt, Mensch und Geschichte, das ganze gesellschaftliche Bewusstsein durchdringen. Wie es einst die liberal-fortschrittliche Elite des Bürgertums – in Deutschland durch feudal-konservative Einflüsse gebrochen – gewesen ist, von der aus sich eine bestimmte geistige Atmosphäre über die ganze Nation ausbreitete, so ist es in unseren Tagen die dekadent-reaktionäre Elite, von der der gleiche Einfluss ausgeht.
Als zweiter Faktor ist zu nennen die mit der Elite zum Teil verfilzte, aber soziologisch scharf von ihr zu unterscheidende Schicht der bürgerlichen Intellektuellen, die fälschlicherweise ebensowenig wie die Elite als eine Erscheinung des Staates beurteilt wird. In erster Linie denken wir an die große Zahl der beamteten Intellektuellen; aber ihrer tatsächlichen Funktion nach gehören viele Journalisten, Künstler und privat tätige Gelehrte dazu. Diese Schicht unterscheidet sich von der Elite dadurch, dass sie geistig schöpferisch tätig ist, während die Elite die Ergebnisse dieser Tätigkeit als „Kultur“ passiv genießt. Darüber hinaus unterscheidet sie sich von der eigentlichen Elite wesentlich auch dadurch, dass sie sich in materieller und moralischer Abhängigkeit befindet, sich stets einem gewissen Druck ausgesetzt fühlt – und wo letzteres nicht der Fall ist, so nur deshalb, weil die „Übereinstimmung“ vollkommen, d.h. die Unterwerfung komplett ist. Nicht etwa, als ob diese Unterwerfung eine bewusste und gewollte sein müsste, obgleich dies oft genug zutrifft. Es genügt, wenn durch Tradition, Schule und Universität, durch erkenntnismäßige Deformation seitens der Entfremdungserscheinungen und durch gewohnheitsmäßigen oder anerzogenen Hass gegen die Massen die Linie des Verhaltens in eine spontane Entsprechung zum reaktionären bürgerlichen Bewusstsein gerät. Da nur eine kleine Minderheit der Intellektuellen der Elite selbst entstammt, nur wenige infolge Geburt und Vermögen ihr angehören, gleichzeitig aber ihr Bewusstsein an das Ideal des elitehaften Individualismus gebunden ist, kompensiert die Mehrheit der bürgerlichen Intellektuellen ihre Minderwertigkeitsgefühle der Elite gegenüber einerseits durch Geist, andererseits durch Nachäffung der Manieren und der Lebensweise der Elite. Die Verachtung der Massen des Volkes – „Man muss sich unter allen Umständen von der Masse unterscheiden!“ – verstärkt ihr Gefühl noch mehr, in die Elite aufgestiegen zu sein.
Diese ideelle Bindung an die Elite ist es vornehmlich, die trotz der natürlichen Tendenz des berufsmäßigen Geistesarbeiters, trotz seiner Neigung zur geistigen Renitenz, diese Tendenz oft bis ins Gegenteil abschwächt und ihn zum Anschluss an die Elite, in Wahrheit zur knechtischen Unterwerfung unter die autoritativen Herrschaftsansprüche der Elite drängt. Je traditioneller und unbewusster die Wege dieser Unterwerfung sind, desto knechtischer ist das Verhältnis zwischen Elite und Intelligenz und je knechtischer es ist, desto unkritischer und willenloser begegnet letztere wiederum den gesellschaftlichen Entfremdungserscheinungen, deren gewaltiger, geistig und moralisch destruierender Kraft sich ohnehin nur die härtesten und begabtesten Individuen entziehen können. Und wo dieser verhexte Kreis, der mit der spontanen Unterwerfung unter die Entfremdungserscheinungen beginnt, sich in der Zuwendung zum „Ideal der Elite“ fortsetzt und in einer Steigerung des Bewusstseins der Entfremdung (z.B. in der Erklärung der kapitalistischen Entfremdungssituation zum „Wesen des Menschen“ usw.) endet, seine Wirkung nicht voll auszuüben vermag, da zwingt das über dem Geistesarbeiter stets schwebende Damoklesschwert der Existenzschädigung oder zumindest der Ausstoßung aus der Gemeinschaft den Außenseiter zur reuigen Rückkehr. Wehe den Stolzen, die sich trotzdem nicht unterwerfen, den wirklich unabhängigen Idealisten – sie haben nichts zu lachen.
Die Elite und ihre intellektuellen Trabanten bilden zusammen das ideologische Priestertum des Staates, sie sind gleichsam seine Seele. Obgleich der Elite mancherlei praktische Aufgaben zufallen, deren sie sich in den meisten Fällen aber nur mit Widerwillen entledigt (was in meinem Beitrag „Die Dekadenz des herrschenden Bürgertums und die Rolle der bürgerlichen Elite“, WISO, 15.12.1956, näher begründet worden ist), bleibt sie wesentlich der Träger einer ideologischen, einer „kulturellen“ Funktion, worin sie sich von der Intelligenz aktiv unterstützen lässt. Deshalb vermögen sich diese beiden Schichten das Ansehen zu geben, außerhalb der Praxis des Staates zu stehen, nichts mit ihm zu tun zu haben. Doch ist das Täuschung, denn ihre ideologische Funktion ist von immenser praktischer Wirkung, indem sie den Zusammenhalt der Gesellschaft garantieren, womit sie eine staatliche Funktion übernehmen. (Dass hier noch zu untersuchen wäre, wie im einzelnen die kulturelle und geistige Beeinflussung der Gesellschaft vor sich geht, welcher Wege sie sich bedient, ist eine andere Sache.)
Aber jede Seele braucht, um leben zu können, einen Körper, und dieser Körper – der dritte Faktor in unserer Reihe – ist die Bürokratie (plus Polizei und Armee). Wie die Elite und die ihr entsprechende Intellektuellenschicht in ihrer unsichtbaren geistigen Weise, so sitzt die Bürokratie in sichtbarer Weise wie ein dicker Kitt in den Poren der kapitalistischen Gesellschaft. Der einzelne Bürokrat, der nach spezialistischer Eignung ausgewählt wird, daher immer nur einen winzigen Ausschnitt der Welt vor Augen hat und daher nicht fragt, zu welchem letzten Zweck man seiner bedarf, der durch das ökonomische Interesse und die Furcht vor dem Hunger ausreichend an den Staat gefesselt wird, benötigt keine allzu komplizierten Vermittlungen, um sich ihm zu unterwerfen. Trotzdem glaubt auch er an die höhere Bestimmung des Staates, der er blind gehorcht. Ihm steht die „Pflicht“ höher als der Mensch. Aber für diese extreme Ausprägung des formalistischen Pflichtbewusstseins gibt es natürlich einen soziologischen Grund: er liegt im formal-gleichheitlichen Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft, der seinerseits seine Wurzeln in der kapitalistischen „Warenstruktur“ hat (wie anderweitig dargelegt).
In der feudal-christlichen Gesellschaft, in der, wie wir sahen, der Egoismus offen zugegeben, wenn auch religiös gerechtfertigt wurde, musste entsprechend den andersgearteten Bedingungen noch der Zwang herrschen, weshalb die führende Elite weitgehend eine Elite der Waffe darstellte. Der Rolle des religiösen Bewusstseins entsprechend stand an der Stelle der heutigen Intellektuellen die Geistlichkeit.
Die Bürokratie spielte eine geringe Rolle, die wenigen ihrer öffentlichen Funktionen wurden von den Geistlichen übernommen. Erst mit dem sich entwickelnden formal gleichheitlichen Rationalismus und Individualismus der städtischen Marktgesellschaft entsteht eine neue Rechtsvorstellung und eine neue Rechts- und Verwaltungsübung; erst jetzt erinnert man sich des auf die individualistische Marktbeziehung zugeschnittenen Römischen Rechts. Erst jetzt entsteht die moderne Bürokratie.
War in der mittelalterlichen Gesellschaft der Geist ein Büttel der die ganze Gesellschaft zusammenhaltenden Gewalt, so ist es in der individualistischen, politisch emanzipierten Gesellschaft gerade umgekehrt. Die Gewalt, inkarniert in Heer und Polizei, verschwindet nicht, aber sie ordnet sich nach außen jenem Prinzip unter, das unter den modernen Bedingungen (und in „normalen“ Zeiten) besser als sie das Herrschaftsverhältnis zu „verewigen“ in der Lage ist, dem bürgerlichen Geist. Die im Hintergrunde lauernde Gewalt bricht aber stets offen hervor und pfeift auf den Geist, sobald die Klassenherrschaft des Bürgertums infolge der demokratischen Entwicklung der Gesellschaft bedroht erscheint. Immerhin kommt dem Geist in Zeiten der gefestigten Existenz der gegebenen Klassenverhältnisse die Priorität zu. Solange er stark genug ist, die kapitalistische Gesellschaft zu stabilisieren, darf er sich einbilden, unbestritten über die Welt zu gebieten. Wo seine Macht nicht ausreicht, genügen fürs erste, (d.h. bis zur nächsten Epoche der Inthronisierung der Gewalt – Faschismus) die von ihm verklärten und von seinen Exponenten vorsichtig und hinterhältig gehandhabten Mittel der gemäßigten Gewaltanwendung, insbesondere des wirtschaftlichen Zwangs und der Isolierung.
Immerhin zeigen die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Ordnung eingetreten sind, weshalb in der modernen Gesellschaft der kulturtragenden Elite im Zusammenwirken mit der Intelligenz und der Bürokratie nicht nur eine bedeutende Rolle zukommt, sondern sie geradezu zum Rückgrat des modernen Staates wird. Hat Marx schon, wie wir darlegten, erkannt, dass sich die früheren Ordnungen von der bürgerlichen Klassenordnung durch ihr anderes Verhältnis zum Zwang unterscheiden, so muss dem hinzugefügt werden, dass die Klassenherrschaft der modernen Bourgeoisie sich noch speziell dadurch kennzeichnet, dass sie sich, unterstützt durch die Kompliziertheit des gesellschaftlichen Prozesses, vollendet in das Gewand des Geistigen zu hüllen versteht. Der von Marx analysierte bürgerliche, politisch emanzipierte Staat, mischt sich zwar, wie Marx zeigt, nicht in die Sphäre des „privaten“ Interessenkampfes ein, er überlässt den Egoismus sich selbst, womit er die besitzlosen Klassen den besitzenden ausliefert. Aber er wartet nicht, bis die Besitzlosen sich dieses Zustandes bewusst werden und zu einer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse schreiten, er begnügt sich auch nicht damit, einigen heiligen und profanen Pädagogen die Erziehung des Volkes zu überlassen, sondern seine Funktion ist wesenhaft und dank der komplizierten Spontaneität der bürgerlichen Bewusstseinsbildung von Anfang an darauf gerichtet, zu erreichen, dass bereits von der Wurzel her die Prinzipien der Herrschenden zu Prinzipien des ganzen Volkes werden. Kraft Elite und Intelligenz wird der ideologische Himmel der Bourgeoisie zum ideologischen Himmel des ganzen Volkes, das geistig genau so unterworfen wird, wie es sozial unterworfen ist. Die Herrschaft der Herrschenden wird so vergeistigt und unsichtbar gemacht, und gerade auf diese Weise am besten gefestigt.
Die heilige Dreieinigkeit des bürgerlichen Geistes teilt sich in die dreifache Erscheinung: der egoistische Herrengeist des kapitalistischen Bürgertums entsteht spontan aus den unmittelbaren Bedürfnissen dieser Klasse und fasst sich am reinsten zum Geist der Elite zusammen; der geistreiche Geist der Intellektuellen, der theoretische Geist erweist sich als der Knecht des spontanen Elitegeistes; schließlich der geistlose Geist der Bürokratie, der gleichzeitig die greifbarste, materiellste Form darstellt, der unter dem Mantel der gesetzlichen Gleichheit blind die Geschäfte der „Ordnung“ ausführt und so die Ungleichheit garantiert, dessen Formalismus den Zweck erfüllt, die Inhaltlichkeit unbegreiflich zu machen, sie zu verhüllen.
Mit dieser Vergeistigung des Staates ist aber nicht nur die höchste Form des Staates innerhalb der Klassengesellschaft erreicht – was der bürgerlichen Gesellschaft als der höchsten Form der Klassengesellschaft entspricht –‚ sondern auch die subtilste, versteckteste, mythologischste Form. Der Schein der reinen Herrschaft des Geistes (der in Wahrheit dem egoistischen Interesse der Bourgeoisie dient) zieht den Schein der reinen Herrschaft der Freiheit nach sich, und einmal auf dem Standpunkt dieser Freiheit angelangt, kann sich das verführte Bewusstsein nicht mehr vorstellen, dass Geist eine Form des Zwanges sein kann, ohne Aussicht auf Fluche für die Betroffenen.
Die Herrschaft des Geistes, und zwar des entfremdeten Geistes über den Menschen ist der Ausdruck dessen, dass er der Knecht der Herrschaft des Menschen über den Menschen, der Knecht der Herrschenden ist. Die Verselbständigung des Geistes gegenüber dem Menschen in der Gestalt der Herrschaft über ihn, statt das wesentlichste Mittel im Dienste seiner Bestimmung und seiner Verwirklichung als Mensch zu sein, ist nur möglich, weil der Mensch sich dem Menschen gegenüber verselbständigt hat, als Herr gegenüber dem Knecht. Dass der Herr dabei selbst zum Knecht wird, sowohl zum Knecht seines eigenen entfremdeten Geistes als auch des menschlich entfremdeten Knechts, der den Herrn in die Untiefen seiner Unmenschlichkeit hinab zieht, gehört zur teuflischen Dynamik des Entfremdungsprozesses, dem sich niemand entziehen kann. Das ist die wahre Tragödie des Menschen im Kapitalismus, gleich ob des herrschenden oder geknechteten, von der ihn nur der Sozialismus befreien kann. Erst im Sozialismus, wo das Herrschaftsverhältnis einem allgemeinen menschlichen Verhältnis weicht, wird auch der Geist zu seiner eigentlichen Bestimmung zurückfinden. Der Staat wird seiner nicht mehr als Mittel der Herrschaft bedürfen, weil er sich auflösen und schließlich ganz verschwinden wird. An die Stelle des Staates, der in der Klassengesellschaft das Werkzeug der Aufrechterhaltung der Herrschafts-Knechtschaftsverhältnisse ist, wird, die freie Organisation Freier treten, d.h. die gesellschaftliche Organisation mit allen ihr zufallenden vielfältigen Aufgaben der Erzeugung und der Erhaltung des gesellschaftlichen Lebens wird bleiben, aber sie wird ohne den Staat auskommen.
Erstveröffentlichung (anonym) in: WISO. Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 1.3.1957, S.99ff.