Über einen der vielen Gründe der Niederlage der SPD. Ein Brief an die Redaktion [1953]
Man erkennt den Niedergang einer politischen Bewegung unter anderem daran, dass sie einerseits die sie tragende theoretische Grundansicht bis zur Nichtigkeit nivelliert, um andererseits in leerer Geschäftigkeit ihre praktische „Arbeit“ ins Endlose zu komplizieren. Der Inhaltslosigkeit der auf das Grundsätzliche gerichteten Aussagen steht hier eine organisatorische Maschinerie gegenüber, die in ihrem komplizierten Leerlauf ein dichtes Netz von Funktionen, Organisationen, Ressorts, Berichterstattungen, Beratungen usw. schafft, ohne dass ein sichtbarer Erfolg zustande käme. Sieht man näher zu, enthüllt sich für den Beobachter in beschämender Weise die Tatsache, dass sich im Grunde nichts ändert (im Gegenteil alles verschlechtert): in „ewigem Gleichmaß“ werden die mehr oder weniger ideenlos durchgeführten Distriktabende, die Bildungsgemeinschaften, die Sitzungen abgehaspelt, die Broschüren, die wegen ihrer Langweiligkeit niemand liest, „an den Mann gebracht“, das stets gegenwärtige Missbehagen, das dieses Einerlei erzeugt, mit bitter-saurer Miene als „Schicksal der Zeit“ deklariert. Der offensichtliche Misserfolg all dieser „Arbeit“ wird auf das große „Es“ geschoben, das Über-Individuelle, objektiv Geschehende – wenn nicht im Zuge der Selbstentlastung von aller Schuld Hitler und der Marxist als die persönlich Verantwortlichen „entdeckt“ werden.
Nur eines erweckt den „Funktionär“ zu echter Aktivität: die „Opposition“, die es wagt, Kritik an diesem blindwütigen Nichtstun zu üben, auf die guten Traditionen hinzuweisen, Vorschläge zu unterbreiten, bessere theoretische Schulung und größere innerparteiliche Demokratie zu fordern. [Willi] Eichler durfte dazu sagen, die sozialistischen Bildungsgemeinschaften seien nicht zuletzt auch dazu gut, dass sich hier die Meckerer wirkungslos austoben dürfen. In den Ausstellungen sozialistischer Literatur werden die weitgehend anerkannten Werke sozialistischer Theoretiker nicht aufgenommen, weil sie den in Denkweise und Praxis völlig verbürokratisierten „Ethikern“ in der SPD nicht passen, die Verfasser selbst – obgleich sie in seltenen Exemplaren noch unter uns wandeln und sich trotz der Behandlungsweise, die man ihnen zuteilwerden lässt, bei guter Gesundheit befinden – werden von allen kulturellen Veranstaltungen sichtbar ferngehalten.
In der Theorie vertritt man den Standpunkt der unbedingten individuellen Verantwortlichkeit, passiert aber ein „Unglücksfall“, dann muss wiederum das große „Es“ herhalten, obgleich die Masse der Parteimitglieder anderer Meinung ist. Und so ins Endlose fort … bis zum völligen Ruin der sozialistischen Bewegung (das Partei,,programm“ ist der klarste Ausdruck davon).
Marx definiert einmal den „Pauperismus“ als den Zustand des Individuums, in welchem dieses sich seiner wahren menschlichen Existenz unter den Bedingungen des Kapitalismus nicht bewusst wird und der auch durch eine bloß ökonomische Veränderung nicht aufgehoben werden kann (im Gegenteil kann im Kapitalismus ein höherer Lohn zur gesteigerten Vermaterialisierung des Menschen und damit zu einer vermehrten Pauperisierung führen).Versteht Marx also unter diesem Begriff des Pauperismus soviel wie Armseligkeit des Bewusstseins und damit der es tragenden Individualität, so ist zu sagen: Die heutige Gesellschaft, ganz besonders Deutschlands und Amerikas, ist einem steigenden Prozess der Pauperisierung unterworfen. Der Pauperismus ist das harte Pflaster, auf dem keine sozialistische Idee gedeihen kann. Adenauers Sieg ist wesentlich ein Sieg der Vermaterialisierung und des Pauperismus.
Aber der Zustand des Pauperismus ist nicht dazu da, um sich mit ihm abzufinden. In jeder Gesellschaft bieten sich zahllose Möglichkeiten, um an das Bewusstsein der Massen heranzukommen. Die französischen Ideologen des 18.Jahrhunderts z.B. haben unter weitaus schwierigeren Bedingungen ihre Ideen verbreitet, und die junge sozialistische Bewegung unseres Jahrhunderts glich auch nicht einem Stockfisch. Redet man schon von bürgerlicher Freiheit (natürlich nur im Vergleich zu den vorangegangenen Epochen oder zur terroristischen Diktatur), dann muss man auch verstehen, dass Freiheit selbst in eingeschränktem Maße nur heißen kann Bewegungsfreiheit in einem geistigen Raume, in welchem die Individuen zwischen den existierenden Meinungen und Ideen frei wählen können. Werden aber bestimmte Meinungen und Ideen isoliert, d.h. dem Bewusstwerden entzogen und damit aus dem Bereiche der individuellen Entscheidungsmöglichkeit ausgeschieden, dann herrscht jene Form der Demokratie, die aus ihr eine Scheindemokratie macht oder, was dasselbe ist, eine demokratisch verschleierte Form der Diktatur. Es ist nicht zu leugnen, dass mehr oder weniger jede bürgerliche Demokratie kraft des gewaltigen Übergewichts der herrschenden Klasse in der Einflussnahme auf die Bewusstseinsbildung der Massen stark scheindemokratische Züge zeigt; aber auf den wirklichen Grad der scheindemokratischen Verwässerung kommt es gerade an – und er ist besonders in Deutschland sehr hoch!
Die Schuld daran trifft nun keineswegs die bürgerliche Klasse allein, die naturgemäß alle ihr gebotenen Möglichkeiten ausnutzt. Sagten wir bereits, dass jede gute sozialistische Bewegung sich kennzeichnet durch ein Mindestmaß an Bürokratisierung, so heißt das u.a., dass eine durch möglichste Vereinfachung des Apparates erzielte Straffung der praktischen Arbeit einhergeht mit jenem Drang nach „missionarischer“ Aktivität, die sich bewusst ist, dass es wesentlich auf die geistige Durchdringung des Massenbewusstseins auf dem Wege der Ausnutzung der geringsten Möglichkeit ankommt. Die frühere und trotz aller Hemmnisse und Unzulänglichkeiten weitaus erfolgreichere Arbeiterbewegung Deutschlands hat noch verstanden, dass Organisation, „Politik und Taktik“ nur zur Wirkung kommen können, wenn das sozialistische Ideengut zu einem zentralen Problem der zur politischen Entscheidung aufgerufenen Massen wird; wenn also die Entscheidung zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu einer echten Alternative des demokratischen Bewusstseins wird und nicht – wie glänzend demonstriert bei den letzten Wahlen – zu einer scheinhaften.
Man komme uns nicht mit der Ausrede, die faktischen Möglichkeiten für eine solche „missionarische“ Arbeit seien zu gering. In Wahrheit hat der Pauperismus als geistige Macht gerade die Masse der parteiamtlichen Funktionäre selbst ergriffen, so dass sie vermeinen, ihre eigene Hilflosigkeit in der Verteidigung des sozialistischen Gedankengutes sei objektiv bedingt. Der geistig nicht Widerstandsfähige soll kein Funktionär sein (mit Ausnahme rein technischer Funktionen wie Kassierer usw.). Den Nur-Organisator kann es nur in einer Hosenknopffabrik, aber nicht in einer sozialistischen Bewegung geben. Der wirkliche, gute Funktionär ist auch „Missionar“. Er wartet nicht, bis die Mitglieder, besonders die jungen, „eintreten“, sondern er holt sie sich, wo sie eben gerade sind. Er verlässt sich nicht darauf, dass z.B. in den Sozialakademien oder den Gewerkschaftsschulen „auch“ Sozialisten anwesend sein werden, die sich „schon“ rühren, er überlässt also die Einflussnahme auf die Hörer nicht der hierin sehr aktiven katholischen und reaktionären Jugend, sondern er sorgt dafür, dass in allen Kursen dem demokratischen Gleichgewicht und dem demokratischen Anstand durch bewusst sozialistische Elemente Nachdruck verliehen wird. Er weicht nicht vor jedem Furz der „christlichen“ Neutralitätshascher in der Gewerkschaft zurück – die wohl wissen, dass hier ihre Auffassung von „Neutralität“ nur bedeutet die Erhaltung des Menschen in jener geistigen Fessel, die ihm der bürgerliche Alltag auferlegt – sondern er macht klar, dass demokratische Neutralität allein heißen kann das Zu-Wort-kommen und offene Diskussion zwischen Gleichberechtigten. Er muss sich daran erinnern, dass einst die Gewerkschaft jener Ort war, wo der Arbeiter erfuhr, was Sozialismus eigentlich heißt, während es heute einen solchen Ort faktisch überhaupt nicht mehr gibt. Er muss vor allem jene Feigheit ablegen, die ihn oft den einfachsten Weg (und das ist der verräterische) gehen lässt, und wenn er dies aus Eigenem nicht vermag, so muss die Partei, der er verantwortlich ist, dafür sorgen. Und wenn die Partei dies nicht tut, dann – ja dann ist sie verloren!!
Ja, wird man sagen, woher nehmen, wenn nicht stehlen?! Die Partei ist nun einmal bürokratisiert, und die Parteibürokratie wird sich durch schöne Worte nicht aus der Ruhe bringen lassen. (Es ist bezeichnend, dass es der führenden Funktionärsschicht vollkommen an Neigung zur Selbstkritik anlässlich der Wahlniederlage fehlt, dass vielmehr diejenigen, die „oben“ Kritik geübt haben, die Schuld in der allzu großen Opposition gegen den Regierungskurs – besonders in der Außenpolitik – suchen, also jene sind, die den Sozialismus für ein paar Mandate mehr ganz der Reaktion opfern wollen!) Die bürokratische Blindheit, wird man mit Recht sagen, wird sich nicht ablegen lassen wie ein Kleid, das man für einen Tag angelegt hat. Ganz besonders die deutsche Sozialdemokratie, wird man einwenden, leidet an einem großen Mangel an wirkungsvollen Persönlichkeiten, der unerlässlichen subjektiven Voraussetzung für einen wirklichen Masseneinfluss. Man wird darauf hinweisen, dass es im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland keinen einzigen parteilich „anerkannten“ Redner von wirklichem Format, keinen einzigen parteilich „anerkannten“ Lehrer, Journalisten, Parlamentarier, Propagandisten von überragendem Format gibt.(1) Gegen die eigenen Parteigenossen, mit denen man in kameradschaftlicher Weise diskutieren und um die Probleme ringen sollte, wird jedes Maß von Schlauheit aufgebracht, wenn sie „unschädlich“ gemacht werden sollen. Gegen den Klassengegner ist man „fein“, „konziliant“ und entgegenkommend; hier, wo politische Schlauheit am Platze ist, ja allein am Platze ist, versagt sie. Die Presse (mit einer imponierenden Überlegenheit der bürgerlichen, weil die vorhandenen sozialistischen Journalisten von Begabung der Bürokratie ein Dorn im Auge sind), Hochschule, Oberschule, Volksschule, Akademie, Gewerkschaftsschule, Film usw. liegen überwiegend in den Händen der bürgerlichen (oft getarnten) Kräfte, weil die Bürokratie in der Partei den Anpassern, den Rückgratlosen und Nachschwätzern den Vorzug gibt. Als Schumacher starb, sagte ein maßgeblicher Funktionär: „Schade um ihn, aber er hat uns auch große Schwierigkeiten gemacht. So z.B. als er die Kirche die vierte Besatzungsmacht nannte.“ Nun, es kommt uns hier nicht darauf an, die Bezeichnung von Schumacher auf ihre Richtigkeit zu prüfen, aber wir haben während des ganzen Wahlkampfs nach einem solchen Wort gelechzt, statt dessen wurden der Öffentlichkeit „geistvolle“ Dummheiten von theoretischen Schwätzern geboten.
Gewiss, das alles und noch viel mehr wird man einwenden. Aber man hat dabei noch eines übersehen. Es gibt in der Partei und in der Gewerkschaft die Kräfte, die jetzt, in der Stimmung der Niederlage vordrängend, eine Besserung erzwingen könnten: Es sind dies jene zahlreichen Kräfte, die sich der großen sozialistischen Tradition der deutschen Arbeiterbewegung bewusst sind, jedoch gerade deshalb von der Parteibürokratie unterdrückt wurden. Es wird nicht leicht sein, gegen die Mauer der Apparatschiki anzurennen. Aber die offene Kritik in den Mitgliederversammlungen und anderen Zusammenkünften kann in diesem Augenblick, da sich viele der Unzulänglichkeit der Partei bewusst werden, viel erwirken. Und vor allem erinnere man sich an das‚ was der Verfasser dieser Zeilen von den „missionarischen“ Aufgaben, die überall unserer harren, gesagt hat. Kein Parteiapparat kann uns daran hindern, überall dabei zu sein, zu diskutieren, den Sozialismus plausibel zu machen, die Richtungen des Sozialismus in demokratischer Breite zu explizieren, Schulungszirkel zu organisieren und junge Menschen der Partei zuzuführen, die des weiteren berufen sind, die sozialistische Idee gegen die einseitige Herrschaft der bürgerlichen Ideologien zu verbreiten.
An dieser Stelle soll gar nicht davon geredet werden, wie nötig es wäre, die für ungelesene Broschüren und einen leerlaufenden Apparat usw. verschwendeten Gelder der Mitglieder für besseres zu verwenden: für die Gründung eines interessanten und schlagkräftigen Diskussionsorgans, eines populären und doch ernst zu nehmenden Schrifttums über den Sozialismus (wobei wiederum alle namhaften Richtungen zu Wort kommen müssten) und für den Aufbau einer neuen sozialistischen Jugendbewegung unter Anwendung neuer wirksamer Methoden. Es müssten alle sich zur Verfügung stellenden intellektuellen Kräfte für die zu organisierende sozialistische „Missionsarbeit“ karteimäßig erfasst und ohne Ansehung der Person, d.h. allein nach dem Gesichtspunkt der propagandistischen, erzieherischen Befähigung und nachgewiesenem Erfolg auf dem Gebiete der geistigen Arbeit, gleichmäßig eingesetzt werden. (Nach dem Vorbild der Wiener Bildungszentrale.) Geschieht aber nichts, um dem deutschen Sozialismus neue Bedeutung im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verschaffen, dann wird Deutschland bald ein Land ohne eine sozialistische Bewegung sein – das Weitervegetieren einer „sozialdemokratischen Partei“ wird daran nichts ändern.
Jetzt ist der Augenblick für die zahlreichen, aber bisher unter einem schweren Druck der Parteibürokratie stehenden einsichtigeren, auf das Wohl des Sozialismus bedachten Genossen, ohne Rücksicht auf die für sie persönlich entstehenden Folgen die in diesem Brief bezeichneten Forderungen mit aller Energie zu stellen. Die Auseinandersetzung kann, wenn sie sich vor dem Hintergrund neuer und größerer sozialer Kämpfe und getragen von einer wiedererwachenden Aktivität der Arbeiterschaft vollzieht, zu einem reinigenden Gewitter werden, das auch in Deutschland wieder den Sozialismus zur echten und einzigen Alternative macht.
Anmerkung:
(1) Die „christliche“ Kölnische Rundschau vom 10.9.53 bemerkt nicht ohne Recht: „Merkwürdig, dass die SPD gar nicht empfindet, dass die großen pathetischen Worte, mit denen sie um sich wirft, in so unangemessenem Verhältnis zu ihren Leistungen stehen. Der verstorbene Dr. Schumacher war sicher ein Mann von ätzender, manchmal sogar undisziplinierter Schärfe. Doch dass er Format hatte, muss auch der politische Gegner anerkennen. Als Ollenhauer die Schuhe von Schumacher anzog, merkte er gar nicht, dass ihm dessen Schuhnummer viel zu groß war. Was wunder, dass er sich bei jedem Schritt selbst auf die Füße tritt.“
Erstveröffentlichung unter dem Pseudonym Hans Killian in: pro und contra. Diskussionsblätter für demokratischen Sozialismus, 11.11.1953, S.148f.