Anthropologische Erkenntnistheorie und Aggression [1971]
Die Unentscheidbarkeit zwischen den beiden heute streitenden anthropologischen Positionen: naturgegebener Aggressionstrieb oder aus gesellschaftlich bedingter Frustration erfließende Aggressionsneigung erklärt sich aus dem fehlenden Bezug auf eine die letzte Wurzel eines jeglichen anthropologischen Denkens aufdeckende Erkenntnistheorie.
Es gibt zwar in einem wohlverstandenen Sinne einen Aggressionstrieb, aber er besteht in einer bloß formalen Gestalt. Das bedeutet, dass innerhalb der Definition der Anthropologie als einer Wissenschaft, die von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderlichkeit handelt(1), jeder Trieb, somit auch der Aggressionstrieb zu den ersteren gehört, indem er eben wegen seiner unveränderlichen Konstanz von sich aus nichts im geschichtlich-gesellschaftlichen Raume bewirken kann, weshalb er zugleich als formale Gegebenheit definiert werden muss.
Zur Erklärung des gesamten Zusammenhangs ist ein theoretischer Umweg unvermeidlich. Der Mensch definiert und unterscheidet sich von allen übrigen Lebewesen durch die neue Qualität des Denkens. Dem Denken eigen ist die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, die Umwelt diesen Zielen entsprechend zu verändern, also tätig zu sein. Alle bewusste Tätigkeit strebt (auch wenn dies nicht immer gelingt) nach Rationalität, d.h. erfolgversprechender Verkürzung des Arbeitsweges, möglichster Klarheit, Ordnung und Sicherheit – was sich traditionell unter den Begriff des „Apollinischen“ subsumiert. Der letzte Sinn aller Tätigkeit ist aber ihre Dienstbarkeit am „Leben“, dem Lebensgrund oder Eros. Das Wesen des letzteren ist das irrationelle Streben nach möglichst ungehemmter Befriedigung aller erotischen Bedürfnisse, somit die Irrationalität. Ihm angemessen ist der Begriff des Dionysischen. Gibt die Welt des Dionysischen jener des Apollinischen die Impulse und Aufgaben, so die letztere der ersteren das Maß und die Ordnung. Durch die Dialektik von Apollinischem und Dionysischem definiert sich dann jene Ganzheit, die wir anthropologische Totalität nennen.
Jedoch für sich, abstrakt (weil vom Gesamtzusammenhang abstrahierend) betrachtet, bleibt die Welt des Dionysischen gekennzeichnet durch die Tendenz nach ungehemmter, d.h. anarchischer und sich auf Kosten des anderen durchsetzender Befriedigung. Eben diese Neigung, ja Kraft, stellt genau das dar, was die Anthropologen in unzureichender Reflexion des Gesamtzusammenhangs den Aggressionstrieb nennen. Sie haben unzweifelhaft insofern recht, als die aus der anthropologischen Totalität gedanklich herausgelöste dionysische oder Triebtendenz sich nicht anders denken lässt denn als egobezogen-aggressiv. Auf diese Weise ist zunächst die Erscheinung der Aggression als eine selbstverständliche und nicht, wie in anderen Definitionsversuchen, als von Anfang an problematische aufgewiesen.
Gleichzeitig jedoch bleibt der Begriff der Aggression, wie wir ihn ableiteten, von bloß formaler Wesenheit; denn er kann sich nur realisieren im Zusammenhang mit der Welt des Apollinischen, aus deren Tätigkeit gesellschaftliches Verhalten und in weiterer Folge Geschichte entspringen. Für sich besehen, vermag er nichts Geschichtliches zu bewirken – z.B. auch keine Kriege.
Das heißt, dass erst auf geschichtlichem Boden sich der formale Aggressionstrieb als ein konkreter realisiert, aus seiner Formalität tritt und inhaltlich wird. Erst hier wandelt er sich zu dem, was nunmehr als die gesellschaftlich bedingte und sich von historischem Augenblick zu historischem Augenblick verändernde Aggressionsneigung zu definieren ist. Ist somit der Aggressionstrieb als anthropologisch „schlechthinnige“ Gegebenheit unveränderlich und formal, so die Aggressionsneigung inhaltlich und veränderlich. Sie verhalten sich, populär ausgedrückt, zueinander wie Form und Inhalt. Das erzwingt aber auch die Schlussfolgerung, dass aus der Form allein sich kein Inhalt ableiten lässt – aus dem Aggressionstrieb allein noch kein Krieg.
Anmerkung:
(1) Vgl. meine beiden Schriften Der asketische Eros (Wien 1967) und Perspektiven des revolutionären Humanismus (Reinbek bei Hamburg 1968), die ersten Abschnitte.
Erstveröffenlichung in: Wirklichkeit und Wahrheit, April/Juni 1971, S.112f.