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» Rezension von Bolzano-Brevier. Sozialethische Betrachtungen aus dem Vormärz. Ausgewählt und herausgegeben von Eduard Winter, Wien 1947, 212 Seiten [1948]

Rezension von Bolzano-Brevier. Sozialethische Betrachtungen aus dem Vormärz. Ausgewählt und herausgegeben von Eduard Winter, Wien 1947, 212 Seiten [1948]

Das Büchlein macht auf einen wenig bekannten Denker aufmerksam, dessen Philosophie immer mehr dadurch der Vergessenheit entrissen wird, dass man sie als Vorläuferin sowohl der Phänomenologie wie auch der Logistik zu deuten und zu verstehen versucht. Als Mathematiker ist Bolzano seit längerer Zeit gewürdigt und geschätzt. Das von E. Winter herausgegebene und mit einem ausgezeichneten Vorwort versehene Brevier nimmt jedoch nur auf Bolzanos sozialethische Anschauungen Bezug, womit einem besonderen Bedürfnis unserer Zeit nach möglichst lückenloser Orientierung hinsichtlich der Geschichte der sozialen Theorie entsprochen wird. Zeitlich eingebettet zwischen den großen Utopisten der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts – deren letzter, Robert Owen, allerdings in hohem Alter erst 1858 starb – und der Epoche der Entwicklung der Marx-Engels‘schen Theorie sowohl, wie der ersten ernstlichen Versuche der Begründung einer revolutionären Arbeiterbewegung – Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein von 1863, Erste Internationale von 1864 –, blieb Bolzanos eigenwillige und für jene Zeit allzu ethisch aufgefasste sozialkritische Idee notwendig ein Stiefkind der öffentlichen Beachtung. Nicht ganz unschuldig an diesem Misserfolg war Bolzano selbst. Er, der im Bereiche der philosophischen Arbeit einer harten und mit mathematischer Präzision durchgeführten Logik sich zu bedienen wusste, blieb, gehemmt durch eine sentimental-religiöse Einstellung zum Menschen, weit hinter den soziologischen Erkenntnissen selbst der Utopisten zurück, die trotz ihrer negativen Beurteilung des Klassenkampfes doch immerhin die großartige Erkenntnis der Notwendigkeit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln als wichtigste Voraussetzung für die Heilung des sozialen Übels entwickelt hatten. Nicht nur von unserem heutigen Standpunkt aus, sondern auch schon in seiner eigenen Zeit mussten Bolzanos praktische Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage schwächlich und undurchdacht erscheinen. Noch im Jahre 1847, also knapp vor seinem Tode, erwartete Bolzano von der Opferwilligkeit der herrschenden Klassen die von ihm ersehnte Hilfe für die Armen. Hierüber äußert sich Winter im Vorwort sehr klar: „Bolzano gibt in dieser Arbeit („Ost und West“) ein ausgezeichnetes Bild von der entsetzlichen Notlage der Arbeiter in den Prager Vorstädten. Ihre Wohnungsnot und ihr Hungerleben kommen beredt zum Ausdruck. Die Vorschläge gipfeln in der Selbstbesteuerung der Reichen zugunsten der Notleidenden nach einem von ihm ausgedachten Verhältnissystem.“ (S.43) Es würde zu weit führen, in dieser Anzeige die weiteren Vorschläge Bolzanos zur Überwindung der sozialen Not aufzählen zu wollen. Es genügt, hier darauf hinzuweisen, dass sie sich alle mit mehr oder weniger radikalen Reformen begnügen, die aber das Privateigentum an den Produktionsmitteln wesentlich unangetastet lassen.

Bolzanos wahre sozialphilosophische Bedeutung ist also nicht in seinem positiven Programm zu suchen, sondern vielmehr in seiner genial-intuitiven Befähigung, die tiefgehenden Widersprüche in der bürgerlichen Gesellschaft zu erkennen und sie, getrieben durch Ehrlichkeit und eine grenzenlose Liebe zum Menschen, mit aller nur erdenklichen Rücksichtslosigkeit darzustellen und zu kritisieren. Damit reiht sich Bolzano in die Reihe jener großen Humanisten ein, die schon sehr frühzeitig gegen die Deformation des Menschen unter der kapitalistischen Arbeitsteilung (vgl. S.197) ankämpfen. Nur der konstruierte Maßstab, an dem Bolzano sein Menschenbild misst, ist ein anderer. Wie in der Kritik Rousseaus die „Natur“, in jener Schillers (vgl. Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, besonders den 6.Brief über die verheerende Wirkung der Arbeitsteilung) der „naive“, mit „Spieltrieb“ begabte antike (d.h. vorkapitalistische) Mensch und bei Fichte das vollendete „Ich“ die Maßstäbe abgeben, an denen diese Denker die sie umgebende Wirklichkeit messen, so hat Bolzano seinen Maßstab in der christlichen Ethik und dem aus ihr abgeleiteten christlichen Menschenbild. Die religiös-ethische Grundeinstellung Bolzanos erfüllt somit eine methodisch immanent wichtige Funktion im Prozess des Zustandekommens seiner Kritik am Kapitalismus.

So besehen stellt Bolzanos Religiosität – natürlich unter Berücksichtigung der besonderen ideologischen Atmosphäre der Zeit vor 1848, in der er lebt – selbst verglichen mit der großartigen Kritik der Junghegelianer an der religiösen „Entfremdung“ des Menschen keinen Rückfall dar. Denn abgesehen von Marx und Engels, die in genialer Weise an die Stelle der von ihnen nicht mehr anerkannten religiösen Prinzipien rein empirisch-humanistische Prinzipien der gesellschaftlichen Kritik zu setzen vermochten, sind alle übrigen Junghegelianer nicht befähigt gewesen, bis zur humanistischen Kritik der kapitalistischen Widersprüche vorzudringen, weil mit dem Verlust des religiös-ethischen ihnen jeglicher Maßstab für eine solche Kritik verloren ging. Sie blieben bei der Forderung der „politischen Emanzipation“ stehen, der Begriff der sozialen Emanzipation war ihnen fremd. So lässt sich Bolzanos Verbindung von Religion und Sozialismus historisch verstehen.

Erstveröffentlichung in: Deutsche Literaturzeitung, Heft 8/9 (August-September) 1948, S.305-307.

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