Revolutionäre Praxis heute? [1965]
1. Gefahr, vornehmlich wissenschaftliche Analysen zu leisten?1
Jede wissenschaftliche Analyse, sofern sie sich nicht im Rahmen der verdinglichten bürgerlichen Ideologie bewegt und sofern sie nicht in einer „kontigent“ beschränkten Dialektik (Frankfurter Richtung), die die Geschichte dirimiert in Epochen mit und solche ohne „mögliche Praxis“, stecken bleibt, bereitet auf mindestens lange Sicht die Aktivität jener progressiven Elite vor, die aller historischen Umwälzung vorauszugehen pflegt. Die dialektische Analyse der Wirklichkeit, die verstanden wird als definiert durch ihre Möglichkeit, ist bereits an sich revolutionär, wenn auch die Wirkung sich vorerst auf irrationalen und im tatsächlichen Effekt nicht voraussehbaren Wegen durchzusetzen pflegt. Die Gefahr, keinen Bezug zur umwälzenden Praxis zu gewinnen, liegt weniger in dem Sichbeschränken der wissenschaftlichen Arbeit auf theoretische Analysen als vielmehr im unkritischen Hinnehmen jener Methoden des akademischen Wissenschaftsbetriebes, die in einer zum Selbstzweck gewordenen protzenhaft-akribistischen Beherrschung der Quellen und in einem ebensolchen Stolz auf die Fähigkeit zur geistreich-genialischen und sophistischen Gedankenführung bestehen. Im Zusammenhang mit der sogenannten „kontigenten“ Verzerrung der Dialektik bricht oft unvermittelt gegen den Willen der in Frage kommenden Autoren streckenweise der Positivismus durch. Hier besonders entsteht dann der Schein einer Praxis, der keine Möglichkeit nach vorne innewohnt. Selbstverständlich ist nicht zu bestreiten, dass diese Möglichkeiten in praktischer Relevanz von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt außerordentlich different ist. Aber irgendeine Zeit ohne jegliche Möglichkeit ist ein bloßes intellektuelles Phantom, getragen von einem reaktionären ideologischen Zweck. (Gesamtgesellschaftlich, d.h. über die nationalen Grenzen hinweg wirkend gedacht, kommt diesem Hinweis eine noch größere Bedeutung zu.)2
2. Da die marxistische Analyse sich immer mehr auf Teilbereiche beschränken muss – wieweit wird es da möglich, das theoretische Ganze zu begreifen als Voraussetzung einer praktischen Veränderung?
Jeder marxistische Wissenschaftler wird über sein Spezialgebiet verfügen. Darüber hinaus ist eine gediegene Übersicht über den Zusammenhang der verschiedenen Gebiete und über ihre gegenseitige Abhängigkeit, vermittelt durch die Arbeiten der übrigen marxistischen Wissenschaftler, durchaus möglich. Der methodische Begriff der Totalität und ihrer dialektischen Struktur gibt (besonders in der Gestalt eines durchdachten historischen Materialismus) das Mittel in die Hand, sich der wesentlichen Momente dieser Totalität zu bemächtigen und von daher wiederum den allgemeinen Zusammenhang der Probleme überschaubar zu machen. Nur der übliche akademische Wissenschaftsbetrieb steht dem entgegen und hindert selbst hochbegabte (besonders jüngere) Theoretiker, diesen Weg zu beschreiten. Ihr Versagen hinsichtlich der an sie gestellten Anforderung, die marxistische Lehre bis zu jenem Punkte auszunutzen und weiter zu treiben, an dem die praktischen Konsequenzen der Veränderung sichtbar werden, ist zumeist eine Folge des unbewussten Unterliegens unter die an den Universitäten überstarken Tendenzen der ideologischen Verbürgerlichung. Selbstverständlich nimmt diese Tendenz bei überzeugten Sozialisten eine kompliziertere und widerspruchsvollere Form an, aber sie ist deshalb nicht weniger wirksam. Eine weitere Konsequenz ist eine, vielfach feinnervige, Verfälschung der marxistischen Theorie selbst, was wiederum z.B. zur Folge hat die Blindheit konkreten Problemen gegenüber (Proletariat, Staat, Funktion der bürgerlichen Elite, Dekadenz, Bedeutung des „Utopischen“ usw.) und das ständige Sichdrehen im gleichen abgedroschenen Problemkreis. Der Ausspruch von Walter Benjamin: „Geist lässt sich nicht habilitieren“ – und wir fügen hinzu, marxistischer schon gar nicht –‚ bleibt den Vertretern einer solchen Haltung naturgemäß unverständlich.
3. Scheiterte die sozialistische Bewegung am Fehlen einer Utopie?
Zweifellos nicht allein. Jedoch ist das Fehlen einer konsequenten Ausrichtung auf ein humanistisches Menschen- und Weltbild, die sich in einem wohlverstandenen Sinne zu einer sogenannten „Utopie“ verdichten kann, nicht nur der wichtigste Beweis für die Entartung des sozialistischen Bewusstseins, sondern gerade deshalb auch ein wesentlicher Grund für die Verengung des Horizonts, für die Bürokratisierung und den geistlosen Praktizismus vieler sozialistischen Bewegungen. Trotz der Gefahr des Sichverbarrikadierens der verantwortlichen sozialistischen Elite im weltfremden Utopismus bildet er, sofern selbst ständig kritisch überprüft, den kritischen humanistischen Maßstab für das Verhältnis zur Realität und zur Praxis und diese Gefahr ist geringer als jene des letztlich stets in die Integration und Resignation führenden Praktizismus.
4. Welche Bedeutung hat der sozialistische Block für die Marxisten?
a.) Die Bedeutung des Experiments: er zeigt, dass selbst unter höchst ungünstigen (und von der marxistischen Theorie nicht vorgesehenen) Bedingungen der sozialistische Aufbau möglich ist; Russland hat nach einer totalen Vernichtung der an sich geringen ökonomischen Grundlagen durch Krieg und Bürgerkrieg – vom ersten Fünfjahrplan 1930, der zum geringsten gelang, gerechnet, und die Kriegsjahre abgerechnet – nur 25 Jahre gebraucht, um der zweitstärkste Industriestaat der Erde zu werden.
b.) Die Bedeutung der Warnung: eine genaue Analyse des Stalinismus beweist, dass ein humanistischeres Regime mindestens dieselben wirtschaftlichen Erfolge bei gleichzeitig weitaus größeren politischen und kulturerzieherischen Erfolgen nach innen und außen gezeigt hätte. Der Stalinismus hat die internationale Entwicklung des Sozialismus um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen.
c.) Die Bedeutung des Anreizes: es ist der Beweis geliefert, dass hochindustrielle Gesellschaftsordnungen möglich sind ohne eine herrschende Bourgeoisie.
d.) Die Bedeutung der kritischen Auseinandersetzung mit den (zum Teil bereits dem Westen überlegenen) erzieherischen und kulturellen Einrichtungen wie insbesondere auch mit den, durch die noch bestehende wirtschaftliche Enge und den bürokratischen Praktizismus verschuldeten, Erscheinungen der Entfremdung und Verdinglichung. Hier ist allerdings hervorzuheben, dass infolge der grundsätzlichen starken Bindung an ein humanistisches und optimistisches Welt- und Menschenbild die diesem eigenen entfremdungs- und verdinglichungsfeindlichen Impulse von dem Zeitpunkt stärker hervortreten werden, indem die Frage der materiellen und technischen Versorgung naturgemäß zu einer sekundären wird – qualitative Vertauschung der Bedeutung von Arbeitszeit und Freizeit, von Versorgung und Kultur, von Politik und „Philosophie“. Es ist zu befürchten, dass diese grundsätzlich auch dem Westen nicht fremden Tendenzen wegen des einflussreichen Nihilismus und wegen der geltenden Herrschaftsverhältnisse nicht zum Durchbruch kommen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass der Westen von dem Zeitpunkt an, indem der Ostblock ökonomisch und (unter dem Druck der östlichen Völker!) demokratisch mehr oder weniger aufgeholt haben wird, in die Defensive gerät. Es obliegt der marxistischen Theorie, diese Entwicklung als mögliche vorauszusehen, zu analysieren und das Bewusstsein der progressiven Elite (die sich heute in allen Kirchen, Organisationen und selbst Parteien findet) darauf vorzubereiten.
5. Gelingt es den kapitalistischen Ländern, immer feinere Formen der Repression zu entwickeln?
Das ist eine Frage, die westliche Intellektuelle gern stellen, weil sie unmittelbar von ihr betroffen sind. Zweifellos bildet die bürgerliche Welt eine große Zahl feiner und grober, in jedem Falle schwer erkennbarer und daher wirksamer Formen der Repression aus. Aber hier ist vor der verbreiteten Ansicht zu warnen, dass alle Formen der Repression gleichermaßen alle Schichten und Klassen zur „freiwilligen“ Integration veranlassen, d.h. in gleicher Weise zur Unterwerfung drängen. Wie sich gewiss der Kleinbürger in seiner Masse an den Schein der Freiheit, der ihm reibungslose Integration erlaubt, geradezu klammert, verhält es sich beim Proletariat (trotz des andersgearteten, weil bürgerlich-ideologisch geprägten Scheins) nicht ganz so, ja in vieler Beziehung geradezu entgegengesetzt. Wer viel mit Arbeitern aller Berufsarten zusammenkommt, ist zunächst (je nachdem) schockiert oder beeindruckt von ihrer realistischen Nüchternheit, die zwar oft große Primitivität impliziert, aber ebenso die Abneigung gegen jegliche Ideologie, von deren gängigen Erscheinungsform sie nur das allgemeinste annehmen.3 Die bloß empirische (positivistische) Beschreibung dieses Tatbestandes ist zwar als theoretischer Ausgangspunkt unentbehrlich, reicht aber zu seinem wirklichen Verständnis nicht aus. Die leibeigenen und frondienstpflichtigen Bauern wie auch die Proletarier der mittelalterlichen Städte rührten sich trotz des damaligen Fehlens verfeinerter Formen der Herrschaft durch Jahrhunderte nicht (die letzteren nur zeitweilig, wenn sie von der bürgerlichen Bewegung in Anspruch genommen wurden). Selbst für die Sklaven der Antike trifft dies, die seltenen Ausnahmen abgerechnet, zu. Die unteren Klassen sind stets nur dann aktiv geworden, wenn das umwälzende Bewusstsein in sie hinein getragen werden konnte und wurde. Der Träger eines solchen Bewusstseins ist stets ein Vortrupp oder eine Organisation. Versagen diese, dann bleibt die „freiwillige“ Integration in die Repression das Normale, oft für längere Epochen. In unseren Tagen ist das Versagen der Gewerkschaften und sozialistischen Parteien weniger ein Ausdruck irgendwelcher verfeinerter Formen der Repression, denn gegen diese gerichtete kritische Untersuchungen stehen ihnen in ausreichendem Maße zur Verfügung; vielfach machen die Funktionäre sich „privat“ mit ihnen vertraut, auch wenn sie darüber und über die sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht sprechen, weil sie fürchten, als Kommunisten verschrien zu werden, obgleich eine solche Haltung mit dem Kommunismus gar nichts zu tun hat (vgl. die Jahrtausende alte Tradition der Unterdrückung durch Verleumdung). Auf die Dauer weitaus wirksamer sind solche sekundäre Faktoren wie der Stalinismus, dessen Abbau bereits eine erhebliche Stärkung der linken Strömungen in Italien, Frankreich und England zur Folge gehabt hat, dessen relative Weiterexistenz in Ostdeutschland aber umgekehrt ein starkes Hemmnis für das Umschlagen des vielfach in der Literatur nachgewiesenen alltagsprimitiven und passiven KlassenBewusstseins bei den proletarischen Massen („Wir sind die Unteren“, „die da oben“, „sie können nicht genug haben, während sie uns schuften lassen“, „es war immer schon so“, nämlich ungerecht usw.) in ein aktives darstellt. Dieses Umschlagen kann aber erst zu einem realen Prozess werden, wenn die Vortrupporganisationen Bewusstseinsmäßig im humanistisch-kritischen Durchschauen der komplizierten Vorgänge vorausgehen. Die Aneignung der hierfür notwendigen theoretischen Voraussetzungen ist heute kein ernstes Problem mehr. Die Auswertung der schwierigeren theoretischen Werke kann einzelnen dazu Befähigten überlassen werden, die das so gewonnene Wissen in einer verständlicheren Form weitertragen. Allerdings muss mit solchen marxo-nihilistischen Methoden wie jenen des Verschweigens des Schrifttums marxistischer Autoren, ihrer Diffamierung statt pflichtgemäßen Förderung usw., jenen Methoden, wie sie insbesondere von den Vertretern der Frankfurter Soziologenschule ausgebildet wurde, Schluss gemacht werden. Natürlich setzt der wünschbare Erfolg die Richtigkeit jener Thesen über das Wesen des heutigen Proletariats, die wir oben andeuteten, voraus. (Selbst die Analyse des öffentlich weit überschätzten Einkommens bestätigt unsere Vorstellungen. Der berüchtigte „Konsum“ kennzeichnet sich bei den Massen durch eine auffallende Armseligkeit und ist weitgehend bloß Ideologie, daher als „Konsumideologie“ auch mit ideologischen Mitteln zu zerstören.
Praktische Experimente beweisen dies zulänglich.4 Die Identifikation mit der vorhandenen Ordnung ist bei der Arbeiterschaft am geringsten. Was wir hier in einem breiten Maße antreffen, ist die Neigung zum Mitmachen, und dies ist etwas ganz anderes. Die Identifikation wirkt vom Inneren des Individuums, das bloße Mitmachen bleibt ihm äußerlich. Deshalb ist die Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung nicht gleichzusetzen mit jener des Proletariats: genau besehen, gibt es letztere nur in einem geringen Maße. Sollte sich in Deutschland im ideologischen Charakter der Organisationen der Arbeitenden in absehbarer Zeit nichts ändern, dann wird es wie schon oft in seiner Geschichte, wiederum das letzte Land unter den entwickelten Ländern sein, das den historisch notwendigen nächsten Schritt vollzieht – dann aber mit dem Effekt des Zuspätkommens: es wird wieder jener Frucht vergleichbar sein, die nach einem Worte Mirabeaus faul wird vor der Reife. Weltgeschichtlich jedoch besehen, ist dieser Schritt unvermeidlich und wird vielleicht da getan werden, wo wir ihn am wenigsten erwarten.
Damit nicht der Eindruck entsteht, dass ich die modernen „verfeinerten“ Formen der Repression unterschätze, sei an einem Beispiel aufgewiesen, dass ich mich mit ihnen eingehend beschäftige und sie sehr ernst nehme – aber mit ganz anderen Konsequenzen als die „nonkonformistisch maskierten Konformisten“ (wie Georg Lukács sie nennt). Wir heben hier heraus das Phänomen der Integration durch Identifikation. Der Mensch des 20.Jahrhunderts hat es gelernt, kraft ihm zugestandener Freiheit Tabus zu verletzen und den Durchbruch durch die geltende Moral für vereinbar mit den Grundsätzen einer modernen Lebensauffassung zu halten. Die gleichzeitig zu beobachtende Tendenz zur Identifikation mit der herrschenden Ordnung, die hervorgerufen wird durch eben diese Freiheit und zusätzlich durch eine die enttabuisierten Triebbedürfnisse scheinhaft befriedigende Konsummechanik, zieht in Widerspruch zur obigen Behauptung auch eine Identifikation mit der geltenden Moral (weitverbreitetes Spießertum) nach sich. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Er erklärt sich – gedrängt ausgedrückt – auf die Weise, dass die bewusste Enttabuisierung zwar Tabus verletzt, aber deren tatsächliche Weitergeltung, die in das psychische Innere der Individuen reicht, nicht aufhebt. Das so (wenn auch vermittelter als hier dargestellt) entstehende Schuldgefühl, eine der wichtigsten Wurzeln der verbreiteten Depressivität, beweist, dass die fast schon zum guten Ton gehörige Verletzung der Tabus nicht befreiend wirkt, sondern im Gegenteil belastend und den Drang erzeugt, durch Abtragung überwunden zu werden. Die naheliegendste und daher gängigste Form der Tilgung der „Sünde“ ist der Beweis der gesellschaftlichen Zuverlässigkeit, d.h. der freiwilligen Integration in den repressiven Prozess. Die kraft Freiheit ermöglichte Enttabuisierung des privaten Lebens des Individuums hat zur Folge dessen freiwillige Unterwerfung im öffentlichen Leben, die Verletzung der geltenden Moral in gewissen Bereichen des Individuellen ist verbunden mit einer Verfestigung dieser Moral im Bereich des Gesellschaftlichen (z.B. „Arbeitsmoral“). Die repressive Ordnung profitiert von einer Freiheit, die für sie den Vorzug hat, die Repression unsichtbar zu machen, zu verinnerlichen und selbst als ein Element, ja geradezu als ein Ausdruck dieser Freiheit erscheinen zu lassen. Das Resultat ist, dass die Identifikation des Konsum- und Triebinteresses mit den objektiven Umständen als ein Akt der Freiheit erscheint, obgleich sie sich letzten Endes gegen das Individuum selbst wendet, es nur dem Scheine nach befriedigt und ihm weitaus mehr Glück und Freiheit raubt als gewährt, sowohl gemessen an den gegenwärtigen wie künftigen Möglichkeiten einer solchen Gewährung.
Mit diesen Hinweisen wollen wir es in diesem Rahmen genug sein lassen. Sie zeigen, dass der Autor die modernen Probleme der „verfeinerten Methoden der Repression“ sehr ernst nimmt. Andererseits erzeugt aber die gleiche repressive Situation, wie Phänomen des Schuldgefühls aufgewiesen, ein tiefes Missbehagen, sogar, wie das verbreitete Reden von „Vermassung“, „Vereinsamung“, „Technisierung“ usw. beweist, ein kritisches Bewusstsein, an das trotz seiner ideologischen Verkehrungen mit Erfolg angeknüpft werden kann im Sinne einer humanistischen Aufklärung. Die „Praxis“ hierin hat dies bewiesen. Ganz besonders trifft das zu für die Arbeiterschaft und ihr nahestehende Schichten (z.B. materiell schlechter gestellte Angestellte), die nur durch die halb oder ganz verbürgerlichten Organisationen der Gewerkschaften und der sozialistischen Parteien daran gehindert werden, den Schritt vom dumpf-kritischen und in der verneinenden Resignation steckengebliebenen wie das Mitmachen provozierenden Bewusstsein (vgl. unsere obigen Ausführungen) zum echt kritischen zu vollziehen. Wir unterstreichen nochmals, dass weltgeschichtlich gesehen dieser Schritt unvermeidlich ist, auch wenn einzelne Länder hierin zurückbleiben sollten. Es ist die Aufgabe der humanistischen Elite, ihn ohne Rücksicht auf nationale und lokale Hindernisse ideologisch vorzubereiten. In unserer Zeit ist nebst jenen praktischen Aktionen, die der humanistischen Aufklärung dienen und mehrfach bereits Erfolg gehabt haben, die Anstrengung im Dienste dieser Aufklärung selbst die wichtigste praktische Aktion. Die sozialistische Theorie wird nur da erfolgreich sein, wo sie sich dessen bewusst bleibt. Ansonsten wird sie akademisch oder sektiererisch entarten, wobei zwischen diesen beiden äußerlich einander fremd erscheinenden Formen der Entartung eine tiefe Verwandtschaft besteht.
6. Soll die sozialistische und liberal-demokratische Linke dem Pervertierungsprozess freien Lauf lassen, um der Pseudofreiheit nicht noch mehr Raum zu verschaffen?
Diese Frage ist falsch gestellt. Aktionen, die keine Erschütterung des pervertierten Bewusstseins zur Folge haben, sind sinnlos. Dagegen sind alle Aktionen zu unterstützen, die in der Konsequenz der humanistisch-kritischen Aufklärung dienen oder in der Nachwirkung eine Auflockerung der geltenden repressiven Ideologien erzielen. In allen Epochen der total oder relativ stabilisierten Perversion ist die direkt oder indirekt der humanistisch-kritischen Zersetzung des herrschenden repressiven Bewusstseins dienende Aktion die zunächst schlechthin wichtigste Aktion. Sie ist in diesen Epochen die eigentlich praktische, und die im engeren Sinne praktische hat sich ihr unterzuordnen. Aktivität ohne diesen Bezug verfällt dem praktizistischen Sektierertum. Damit beantwortet sich auch die Frage,
7. Ob der Versuch unternommen werden soll, die Antagonismen zu verschärfen?
Jede humanistische Aufklärung, möge sie aus der theoretischen oder praktischen Aktion kommen, verschärft auf die Dauer die gesellschaftlichen Antagonismen. Ob es deshalb auch schon zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Struktur kommt, ist damit noch nicht klargestellt. Dies hängt von den besonderen Bedingungen der einzelnen Nationen ab. Aber weltgeschichtlich besehen, verfängt sich die Anstrengung der Aufklärung im allgemeinen Prozess und erfüllt stets, wenn auch auf nicht voraussehbaren und rational verfolgbaren Wegen, ihre Aufgabe. Wenigstens in diesem Sinne erweist sich die Leugnung „möglicher Praxis“ als gegenstandslos. Es bleibt der Frankfurter Richtung vorbehalten, den Begriff der Aufklärung so umzudeuten, dass nur Verwirrung und Entmutigung am Ende stehen können.
Obgleich wir bemerkten, dass die Frage danach, ob man der Pseudofreiheit freien Lauf lassen soll oder nicht, falsch gestellt ist, enthüllt sie angesichts gewisser Praktiken pseudofreiheitlich gesonnener Ideologen einen richtigen Kern. Nehmen wir ein Beispiel. Im Sommersemester 1964 hielt Professor Dahrendorf an der Tübinger Universität einen Festvortrag über das Thema „Arbeiterkinder an deutschen Universitäten“. Er beklagte, dass in Deutschland nur ein geringer Prozentsatz Arbeiterkinder studiert. Als ob der Prozentsatz angesichts der nachweisbaren fast totalen Integration dieser Studenten in das bürgerliche Bewusstsein mit dem Resultat ihres Verrats an den Interessen der Klasse, der sie entstammen, etwas ausmachen würde. Das positivistische Operieren mit Prozentsätzen ohne Berücksichtigung ihrer ideologischen Bedeutung, d.h. des in ihnen ausgedrückten Pervertierungsprozesses ändert sich in seinem Integrationscharakter auch dann nicht, wenn sie in das Licht an sich richtiger Feststellungen gerückt werden wie etwa solcher, „dass deutsche Arbeiterfamilien nicht bildungsfreundlich und deutsche Bildungseinrichtungen nicht arbeiterfreundlich sind“. Solange das demokratische Gleichgewicht der Weltanschauungen an den Universitäten nicht hergestellt ist, solange die Vertreter der marxistisch-demokratischen Theorie sich in einer verschwindenden Minderzahl befinden und zudem die meisten von ihnen unter der ständigen Furcht leben, als solche erkannt zu werden, solange kann die Forderung nach Erhöhung des Anteils studierender Arbeiterkinder nur die ideologische Aufgabe der pseudodemokratischen Tarnung repressiver Zustände erfüllen. Die Entlarvung des wahren Charakters solcher Manipulationen ist gleichzeitig geeignet, der humanistischen Aufklärung zu dienen und der Verschärfung des Widerspruchscharakters der repressiven Ordnung freien Lauf zu lassen.
8. Zeigen sich in den industrialisierten Gesellschaften Möglichkeiten einer Entwicklung des progressiven Bewusstseins und einer entsprechenden Praxis?
Diese Frage beantwortet sich durch die vorangehenden Ausführungen. Es kann hierbei nicht deutlich genug unterstrichen werden, dass es weitgehend vom Gelingen oder Misslingen der humanistischen Demokratisierung der östlichen Länder abhängt, ob in den bürgerlichen Ländern ein entscheidender historischer Schritt nach vorwärts gelingt oder nicht. Wie wahr das ist, belegt folgender interessante Hinweis. Im polnischen Theater (und wahrscheinlich auch im Theater anderer Staaten des Ostens) besteht weder bei den Veranstaltern noch beim Publikum ein Interesse an dem, was man die Arbeiterfrage nennt. Es verhält sich in Polen hiermit wie im Westen. Nun begründet man für diesen eine solche Erscheinung mit dem gesellschaftlichen Wandel: angebliches Verschwinden des Proletariats, soziale Sicherheit und materielle Besserstellung, Verwandlung der Klassengesellschaft in eine pluralistische usw. Aber für Polen sind diese Erscheinungen nicht einmal in der die Wirklichkeit bloß verfälschend ideologischen Gestalt festzustellen. Im praktischen Bereich präsentiert sich das Proletariat noch ohne jegliche Verschleierung als ein solches, wozu die schlechte materielle Lage wesentlich beiträgt, und auch Bewusstseinsmäßig ist nicht die geringste Tendenz zu beobachten, die Existenz einer proletarischen Klasse abzuleugnen; vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Es wäre daher zu erwarten, dass die – Probleme der Arbeiterwelt, vergleichbar etwa den zwanziger Jahren bei uns, einen großen Raum in der ästhetischen Reflexion einnehmen. Kann man bei uns noch das Fehlen dieser Reflexion durch das Vordringen der verfeinerten Formen der Repression und des ideologischen Pervertierungsprozesses (z.B. Integration durch Identifikation), also durch komplizierte Formen einer ausschließlich der bürgerlichen Welt eigenen ideologischen Verschleierung erklären, so verliert diese Erklärung jeglichen Sinn unter solchen Lebensbedingungen, wie sie für das heutige Polen zutreffen. So bleibt nur eine Erklärung, nämlich die, dass die Erfahrungen mit dem Stalinismus, dem pseudomarxistischen Bürokratismus und die Erinnerung an seine verheerenden Auswirkungen „im ersten sozialistischen Land der Welt“ sowohl im Osten wie im Westen jenes historische und politische Trauma hinterlassen haben, das in seiner Wirkung auf das öffentliche Bewusstsein der ganzen Welt vielfach noch stark unterschätzt wird. Deshalb unsere These: erst wenn der Osten den Nachweis seiner Demokratisierungsfähigkeit und des Willens zum Aufbau einer sozialistischen Demokratie eindeutig geliefert haben wird, erst dann werden trotz der verfeinerten Formen der Repression und des herrschenden ideologischen Pervertierungsprozesses die Tendenzen der humanistischen Aufklärung sich durchsetzen können – dann aber unaufhaltsam!
Anmerkungen
1 [Kofler antwortet hier schriftlich auf einen ihm (und anderen Intellektuellen) gestellten Fragebogen einer Studierendenzeitung.]
2 Mit den pseudodialektischen Hintenherum-Reaktionären werde ich mich in meiner in Vorbereitung befindlichen Schrift über das Problem der Ideologie eingehend auseinandersetzen [gemeint ist die 1967 erschienene Schrift Der asketische Eros. Industriekultur und Zivilisation].
3 Ich habe diesen Tatbestand mehrfach analysiert in meinen Schriften Die drei menschlichen Tragödien und das Problem der Bildung [in überarbeiteter Form unter dem Titel „Das falsche Bewusstsein der Bildung“ nachgedruckt in Zur Dialektik der Kultur. Sechs Beiträge (1972)], Staat, Gesellschaft und Elite zwischen Humanismus und Nihilismus und Der proletarische Bürger, jeweils von einem anderen Aspekt her.
4 Eine sporadische Überlegung. in einer Gewerkschaftsversammlung bringt folgendes zutage. Um sich die üblichen „Freiheiten“ in bescheidenem Maße leisten zu können, braucht heute jeder etwa 3 DM täglich zu seinem persönlichen Gebrauch, in den ersten Tagen der Woche vielleicht weniger, dafür zum Wochenende mehr. Das würde bedeuten, dass eine Familie von drei Personen DM 270 an monatlichem Taschengeld zur Verfügung haben müsste. Alle Anwesenden waren der Meinung, dass dies ganz ausgeschlossen ist. Usw.
Erstveröffentlichung in: Notizen. Tübinger Studentenzeitung, Nr.62, Juni 1965, S.16ff. [Nachdruck unter dem Titel „Ist revolutionäre Praxis heute möglich? Zum Verhältnis von Theorie und Praxis“ in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, Hamburg 2000]
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